WIR Gemeinsam – Leben in ständiger Angst

Jeder vierte Deutsche leidet im Laufe seines Lebens an einer psychischen Krankheit. In unserer Serie „Wenn das Leben Kopf steht“ stellt die Lebenshilfe Wolfenbüttel Menschen vor, die unvorbereitet durch psychische Erkrankungen mitten aus dem Leben gerissen werden. In der Werkstatt für Industriearbeit (WIR) der Lebenshilfe konnten sie nach einem langen Leidensweg neuen Mut fassen. „Der Mensch kann auch mit schwierigen körperlichen Leiden noch Großartiges vollbringen. Wenn aber die Psyche nicht mehr mitspielt, ist das vorbei“, verdeutlicht Psychologin Angelika Thiele. Die Lebenshilfe will für das wichtige Thema „Psychische Gesundheit“ sensibilisieren. „Damit die Menschen aufeinander acht geben – und mehr Verständnis für diese Krankheiten herrscht“, sagt Axel Koßmann von der Öffentlichkeitsarbeit der Lebenshilfe.

Wolfenbüttel. Wir Wer abends den Fernseher einschaltet, der könnte glauben, es gibt eine neue Volkskrankheit: Innere Unruhe. Im Werbeblock beschäftigt sich gefühlt jeder zweite Clip mit Stress, Konzentrationsproblemen und Schlafstörungen. Natürlich deutet nicht jede Unruhe auf eine ernste Störung hin. Nervosität vor einer Prüfung oder anderen wichtigen Lebenssituationen beispielsweise ist normal. Im Idealfall klingt sie schnell wieder ab. Und doch sind gerade schwere Verläufe bundesweit auf dem Vormarsch.

Gründe dafür gibt es viele, gerade wenn die ganze Gesellschaft betroffen ist: Die Corona-Krise mit ihrer Fülle von Einschränkungen. Der Ukraine-Krieg mit seinen Bedrohungen für ganz Europa. Und die Preisexplosion auf dem Energiesektor, die einhergeht mit der Verknappung lebenswichtiger Güter.

Doch Angststörungen und Panikattacken können auch durch eine Reihe kleinerer Ereignisse ausgelöst werden, wie im Fall von Martin Zepmeisel. Der heute 57-Jährige hatte bis zu seinem 24. Lebensjahr überhaupt keine Symptome wahrgenommen. Dann aber traf es ihn plötzlich und unerwartet – seine Angststörung mit Panikattacken führten schließlich zu einer wahren Odyssee durch verschiedene psychiatrische Kliniken. Heute ist er in der Lebenshilfe-Werkstatt für Industriearbeit (WIR) an der Halchterschen Straße beschäftigt, fühlt sich wohl in seinem geordneten Leben und spricht von falschen Behandlungsversuchen in der Psychiatrie.

Der gebürtige Wolfenbütteler hatte eine Lehre zum KfZ-Mechaniker absolviert und arbeitete in unterschiedlichen Jobs der Metallverarbeitung. Der junge Mann engagierte sich ehrenamtlich, indem er sonntags ältere Menschen mit dem Kirchenbus zum Gottesdienst brachte. „Auf einer Rückfahrt hatte ich aus heiterem Himmel eine Panikattacke, die mich komplett verunsichert hat“, erzählt er rückblickend. Er musste den Bus parken, es ging nicht weiter. „Ich habe meinen Bruder angerufen, damit er die Leute zur Kirche brachte.“

Die erste Diagnose damals: Agoraphobie. „Das ist die Angst, offene Plätze zu überqueren oder Angst vor Orten, an denen eine Flucht nur schwer möglich ist, z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln“, erklärt Angelika Thiele, die Psychologin der Lebenshilfe-Werkstatt. Interessanterweise blieb es danach lange ruhig in und um Martin Zepmeisel. Offenbar schlummerte das Problem. Doch als er drei Jahre später eine Umschulung zum Industrie-Elektroniker in Goslar antrat, war es wieder da: Herzrasen, Schweißausbrüche. „Erst lief es ganz gut in der Berufsschule, aber später musste mich der Sozialarbeiter in die Klasse führen, alleine hätte ich es nicht mehr geschafft.“ 14 Tage vor der Abschlussprüfung brach er die Umschulung ab. Die Situation verschlimmerte sich rasant. „Jedes Jahr kam ich in eine Klinik, nach Königslutter, nach Bad Pyrmont, nach Seesen, nach Liebenburg.“ Neurologische Untersuchungen brachten kein Ergebnis. Offenbar lag kein organischer Hintergrund für die Symptome vor. Viele Medikamente wurden ausprobiert. Mit 32 Jahren kam der Bescheid: Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Angelika Thiele vermutet psychischen Stress als Auslöser der Symptome. „Das ging wohl schon in der Lehre los, als ein ruppiger Ausbilder ihm nichts zutraute und dadurch ständig den Druck erhöhte.“ Martin Zepmeisel geht sogar noch einen Schritt zurück: „Schon mein Vater hat nicht viel zu meiner Selbständigkeit beigetragen. Er hat mir nichts zugetraut“, erzählt er. Doch er mache ihm heute keinen Vorwurf. „Mein Vater gehörte noch zur Kriegsgeneration und wusste es nicht besser.“

Innere Verletzungen können sich anhäufen, sagt die Psychologin, die von „Mini-Traumata“ spricht. Wiederholtes Erleben von abwertenden oder beschämenden Bemerkungen kann die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen erheblich stören. Ist die Angst vor dem Versagen erst einmal da, hat sie Auswirkungen auf den gesamten Körper: „Anspannung, Herzrasen oder Schweißausbrüche gehören zu einer normalen Stressreaktion. Die unangenehmen Körperreaktionen führen jedoch zu einer Angst vor der Angst – und verstärken damit zunehmend den sogenannten Angstkreislauf. Es entwickeln sich ungünstige Vermeidungsstrategien, die zu sozialem Rückzug, zunehmender Vereinsamung und starken Einschränkungen im Alltag führen.“ Bei Martin Zepmeisel wurde die Kontaktscheu so schlimm, dass er den Müll nur noch rausbrachte, wenn definitiv niemand anderes mehr im Treppenhaus war. Die sozialen Kontakte wurden immer weniger, bis ihn die Depression wieder in die Psychiatrie führte. Dieser Automatismus folgte der zynischen Logik ’nach der Klinik ist vor der Klinik.‘ Der Wolfenbütteler erkannte selbst: „So kann es nicht weitergehen.“

Tatsächlich gelang es in der WIR, diesen Teufelskreis aufzubrechen. „In der Werkstatt konnte ich das machen, was ich gelernt hatte – Metallbau.“ Die Fachkraft, sein Gruppenleiter, nahm Rücksicht auf seine geringe Belastbarkeit und reduzierte somit seine Angst, Aufgaben nicht zu schaffen. „Erst habe ich drei Stunden gearbeitet pro Tag, dann vier, dann fünf.“ Mittlerweile ist er 7,5 Stunden täglich dabei, gönnt sich aber einen freien Mittwoch mit Lohneinbußen. „Dabei geht es mir um die Verantwortung und den Anspruch an die Qualität meiner Arbeit“, erklärt er selbstbewusst. „Schließlich arbeiten nur wenige im Metallbereich der WIR.“

Es ist offensichtlich: Was als Angstkreislauf begann, hat eine positive Wendung genommen. Der KfZ-Mechaniker gewann Selbstvertrauen und Sicherheit hinzu, lernte prompt seine neue Lebenspartnerin in der WIR kennen. „Zusammen sind wir hier richtig eingestiegen in den Metallbereich“, sagt er voller Stolz. Von der technischen Zeichnung bis zum fertigen Werkstück erledigen die beiden vieles selbständig, es entstehen Tore, Zäune, Tische, Bänke und einiges mehr. „Zwar habe ich immer noch gelegentliche Angstschübe“, schildert der 57-Jährige. „Aber ich bin jetzt so stabilisiert, dass ich sie überbrücken kann. Das war vor Jahren undenkbar – da habe ich mich nicht mal zur Weihnachtsfeier unserer Truppe in die Lindenhalle getraut.“

Die Klinikaufenthalte in der Psychiatrie empfand er wie unter einer Art „Käseglocke“. Er fühlte sich sicher, wurde aber teilweise nicht auf die Zeit danach vorbereitet. Zu Hause war dann bald wieder Alarm. „Die Arbeit in der WIR ermöglicht uns da viel mehr und wirkt wesentlich nachhaltiger.“

Nach Meinung von Angelika Thiele ist das aber nur ein Faktor für den Erfolg. Im vorliegenden Fall habe die Partnerschaft zweier Betroffener zusätzlich geholfen. „In anderen Fällen können Freunde helfen, Sport kann helfen – im Grunde sollte das ganze persönliche Umfeld wissen, was bei Angst und Panikattacken hilfreich ist. In vielen Kliniken gehört die Patientenschulung und Schulung von Angehörigen inzwischen mit zur Behandlung.“ Martin Zepmeisel meint: „Die Tagesstätte war für mich der falsche Weg gewesen. Dort war ich komplett unterfordert. Ich brauche Aufgaben für Kopf und Körper, brauche Teamwork.“

Ist es eine Krankheit, ist es eine Behinderung? Der Wolfenbütteler sagt, „es ist eine Krankheit, die den Menschen behindert“. Von seinem ambulanten Betreuer hat er sich inzwischen getrennt: „Wir sind uns einig, dass wir alles erreicht haben, was möglich ist.“ Sogar die Neurologin ist von der Entwicklung überrascht. Zepmeisel kann sich mit seiner Partnerin im großen gemeinsamen Garten austoben und hat sogar schon wieder die innere Ausgeglichenheit, sich ehrenamtlich zu engagieren. Kürzlich begleiteten beide drei Blinde auf einen Ausflug. „Es ist gut zu merken, dass Herr Zepmeisel wieder so viel Kraft hat, auch anderen etwas abgeben zu können“, kommentiert Angelika Thiele erfreut. Eine Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt hingegen hält Herr Zepmeisel für ausgeschlossen. „Erstens bin ich zu alt, zweitens hat sich mein Berufsfeld enorm verändert“, sagt der KfZ-Mechaniker. Die Psychologin ergänzt: „Das Leben wird immer schneller, und der Leistungsdruck nimmt zu.“ Jede freie Minute werde ausgefüllt oder effektiv genutzt. Gerade dieser Automatismus führe aber zu Angstzuständen und Panikattacken: „Menschen haben das Gefühl, den Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein und nehmen Aufputschmittel zu sich. Dadurch kommt es zu Schlafstörungen – und der negative Kreislauf beginnt…“

Jeder solle lieber achtsam mit sich umgehen, auch einfach mal nur in der Natur sitzen und einfach nichts tun. Ohne Handy in der Hand. Und das ist wohl keineswegs nur als Ratschlag für die Beschäftigten der WIR gemeint.

Die Serienfolgen:

1. Wege aus der Krise, Wege in die Hilfe.
2. Leben mit Halluzinationen und Erschöpfung.
3. Depressionen rauben alle Kräfte.
4. Auch seelische Verletzungen hinterlassen Narben.
5. Leben in ständiger Angst.