WIR gemeinsam: Auch seelische Verletzungen hinterlassen Narben

Jeder vierte Deutsche leidet im Laufe seines Lebens an einer psychischen Krankheit. In unserer Serie „Wenn das Leben Kopf steht“ stellt die Lebenshilfe Wolfenbüttel Menschen vor, die unvorbereitet durch psychische Erkrankungen mitten aus dem Leben gerissen werden. In der Werkstatt für Industriearbeit (WIR) der Lebenshilfe konnten sie nach einem langen Leidensweg neuen Mut fassen. „Der Mensch kann auch mit schwierigen körperlichen Leiden noch Großartiges vollbringen. Wenn aber die Psyche nicht mehr mitspielt, ist das vorbei“, verdeutlicht Psychologin Angelika Thiele. Die Lebenshilfe will für das wichtige Thema „Psychische Gesundheit“ sensibilisieren. „Damit die Menschen aufeinander acht geben – und mehr Verständnis für diese Krankheiten herrscht“, sagt Axel Koßmann von der Öffentlichkeitsarbeit der Lebenshilfe.

Wolfenbüttel. „Wir sind die Summe unserer Erfahrungen“, soll einst der US-amerikanische Philosoph und Schriftsteller Prentice Mulford gesagt haben. Doch was ist, wenn diese Erfahrungen so schrecklich sind, dass die Psyche sie nicht verarbeiten kann? Damit musste sich Peter auseinandersetzen. Er arbeitet seit viereinhalb Jahren in der Werkstatt für Industriearbeit (WIR) der Lebenshilfe in Wolfenbüttel. Mit nur 16 Jahren wurde er Zeuge des Suizids seines leiblichen Vaters, nachdem er diesen nach der verheimlichten Adoption durch seine Familie endlich kennenlernen durfte. Es ist nur eines der schwer zu verarbeitenden Erlebnisse, dessen Folgen ihn über Trauer und Aggression schließlich in die psychiatrische Behandlung brachten.

Ein Brief änderte alles

„Ich konnte früher nichts anfangen mit Leuten, die in die Psychiatrie gingen. Bis es mich selbst erwischt hat. Äußerlich verheilt viel, aber seelische Verletzungen sind manchmal für die Ewigkeit“, erzählt Peter. Dabei folgten die auslösenden Ereignisse für ihn Schlag auf Schlag. „Ich dachte jahrelang, mein Stiefvater wäre mein leiblicher Vater. Mit 12 Jahren habe ich beim Spielen einen Brief gefunden – da wusste ich, dass ich eigentlich adoptiert bin. Mein Stiefvater brüllte mich nur an und meinte: ‚Du kannst froh sein, dass ich nicht dein Vater bin.‘“ Durch das Jugendamt konnte Peter den Namen seines leiblichen Vaters herausfinden. Eine Facebook-Suche brachte dann schnell Bild und Kontakt. „Wir haben uns mehrfach getroffen. Eines Tages kam ich zu ihm und habe seinen Selbstmord erlebt. Ich rief die Polizei und lief weg. Aber als ich zu Hause war, waren die Polizisten schon da und haben erzählt, was passiert ist.“ Bei diesem Vorfall war Peter 16. Mit 17 wies er sich selbst ins AWO-Psychiatriezentrum in Königslutter ein. „Aus Trauer wurde Aggression. Wegen der Aggressionen ist vieles kaputtgegangen. Ich bin gewalttätig gegenüber meiner Familie geworden“, erzählt Peter und verdeutlicht: „Da war auch mal ein Messer dabei.“

Posttraumatische Belastungsstörung

Der inzwischen 30-Jährige erkrankte damals an einer schweren Depression. Noch heute leidet er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Aufgrund der anhaltenden emotionalen und Verhaltensprobleme bekam er zudem die Diagnose ei- einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, die gemeinhin als „Borderline“ bekannt ist. WIR-Psychologin Angelika Thiele erklärt: „Sein familiärer Hintergrund ist so vielschichtig, mit der Adoption und der langen Verheimlichung des leiblichen Vaters, die eigentlich gut gemeint dem Schutz des Jungen dienen sollte“, sagt sie. „Das führte jedoch zu Vertrauensbruch, Identifikationsproblemen und hilflosen, aggressiven Impulsdurchbrüchen.“ Dazu kam der schicksalhafte, zufällig miterlebte Suizid des leiblichen Vaters als traumatisierendes Ereignis.

Zahlreiche Folgeerkrankungen

Eine PTBS äußert sich vor allem durch unwillkürliches Erinnern und Wiedererleben des Ereignisses. Auch Schlafprobleme können auftreten. „Ich habe ab und zu immer noch Albträume und schlafe unruhig. Lange Zeit war ich sehr von Schlaflosigkeit geplagt. Inzwischen haben wir das aber mit Medikamenten in den Griff bekommen“, kommentiert Peter. Weiterhin können Erinnerungslücken, Konzentrationsstörungen sowie Nervosität, Angst und Reizbarkeit bei einer PTBS eine Rolle spielen. Im Falle von Peter korreliert letzteres mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die sich durch Unsicherheit, Impulsivität und das Denken und Handeln in Extremen auszeichnet – auch in der Gefühlswelt. Gefühle können überkochen und Aggression und Trauer ins Unermessliche steigern.

Selbstverletzendes Verhalten

Innerlicher Druck und Stress führen bei manchen Borderline-Betroffenen zu selbstverletzendem Verhalten, so auch bei Peter: „Viele sehen Selbstverletzung nur als ‚Ritzen‘ (Selbstzufügen von Schnitt- oder anderen Verletzungen). Es beginnt aber schon da, wo man sich permanent an den Fingern pult oder auf den Lippen knabbert“, sagt der 30-Jährige. „Andere suchen sich diese Reize auch außerhalb, zum Beispiel beim Piercer oder Tätowierer.“

Die Probleme rissen für Peter auch während seines sechswöchigen Aufenthaltes in der Psychiatrie und des folgenden zwölfwöchigen Aufenthaltes in der AWO-Tagesklinik in Wolfenbüttel nicht ab. Bei seiner Arbeitsstelle in einer Spedition erfuhr er – wie schon zuvor bei seiner Lehrstelle zum Maler und Lackierer – wenig Unterstützung. „Ich war in der Zeit krankgeschrieben. Es gab Lästereien wegen meines Psychiatrie-Aufenthaltes. Wenn man den Schritt wagt, verstehen viele nicht, warum.“

Trotz des Vertrauensbruchs in der Familie fühlte sich Peter weiter verantwortlich. Insbesondere wegen der Alkoholkrankheit seiner Mutter. „Ich konnte nicht leben mit der Ungewissheit, ob zu Hause alles in Ordnung ist. Ich wollte die Dinge wieder ins Lot bringen“, begründet der 30-Jährige. „Man muss sehr früh erwachsen werden, durch diese ganzen Situationen. Ich habe meiner Mutter dann aus der Klinik in Königslutter heraus einen Platz für einen Entzug besorgt und sie dort hingebracht.“

Die Lebenshilfe-Psychologin Angelika Thiele

Aus Sicht der Psychologin Angelika Thiele sind die Probleme des 30-Jährigen die Folge dessen, was er erleben musste. Die Alkoholerkrankung der Mutter führte vermutlich schon früh zu einer Verschiebung der Verantwortung von der Mutter zum Kind. Die entstehenden Überforderungsgefühle beim Kind führten zu einer Entwicklungsstörung mit Konzentrations- und Lernproblemen. Das wiederum führte zu Schwierigkeiten während der Ausbildung, bei einem leider sehr autoritären und verständnislosen Ausbilder. „Nachdem Peter seine psychischen Probleme als junger Mensch selbst erkannte und durch Selbsteinweisung die ersten Schritte zur Verbesserung einleitete, hatte er leider im weiteren Verlauf stark mit der Stigmatisierung durch einige seiner Mitmenschen zu kämpfen“, erklärt die Expertin und verdeutlicht: „Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Problemen, negative Kommentare und Ausgrenzung verursachen der angeschlagenen Psyche zusätzliches Leid.“

Lösungen für den Alltag finden

Der Zusammenbruch von Peter war der Beginn eines Neuanfangs für ihn. Der Weg ging über die Psychiatrische Klinik in Königslutter und die Tagesklinik Wolfenbüttel, wo er immer noch regelmäßig Termine wahrnimmt. Die Tagesklinik hat ihn auch zur WIR vermittelt. „Wegen der Aggressionen klappt es mit dem ersten Arbeitsmarkt nicht mehr. Ich brauche viele Pausen wegen meiner Erschöpfungssymptome. Die Medikamente machen ja zusätzlich ruhig“, erklärt der 30-Jährige und fährt fort: „Für meinen Alltag habe ich Lösungen gefunden. Ich mache Landschaftsfotografie. Zu Hause spiele ich Gitarre und mache Kraftsport. Das gibt mir einen Ruhepol. Einfach abschalten nach der Arbeit.“ In der WIR konnte sich Peter nach eigenen Angaben weiterentwickeln. „Auch das familiäre hat sich geregelt. Seit ich ausgezogen bin und hier arbeite, steht meine Familie komplett hinter mir. Auch sie wissen jetzt, dass es innere Verletzungen gibt. Sie sagen zu mir, ich sei wieder der alte.“

Die Aggressionsproblematik, erklärt Thiele, verbesserte sich in den letzten Jahren spürbar und stetig. „Da haben auch Hobbys und Medikamente geholfen“, meint der 30-Jährige. „Es gibt natürlich immer noch Situationen, die mich ärgern. Dann suche ich mir aber Hilfe oder rede mit den Leuten. Das wäre früher anders gewesen. Hier habe ich gelernt, damit umzugehen.“

WIR – ein Wohlfühlort

Eine hohe Belastung stellen weiterhin die Konzentrationsstörungen dar: „Ich schweife gerne ab, die Lernfähigkeit ist beeinträchtigt“, erklärt Peter. „Aber in der WIR kann ich offen damit sein. Draußen müsste ich viel schauspielern, um das zu kaschieren.“ Auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung äußert sich im Alltag als Hürde. „An guten Tagen ist Peter ideenreich und kreativ. Wenn ihn etwas runterzieht, sitzen wir oft hier und führen Gespräche“, so Thiele. „Ich fühle mich hier wohl und komme gerne her“, erklärt Peter zu seiner Arbeit in der WIR.

Im Moment laufe alles super: „Ich wünsche mir, dass ich hierbleiben kann. Vielleicht auch bis ins Rentenalter.“

Dem Leben eine positive Wendung geben

Thiele lobt die Eigeninitiative beim Erkennen seiner psychischen Probleme im jungen Alter und äußert ebenfalls einen Wunsch: „Dieser Artikel trägt hoffentlich dazu bei, Achtung vor den Menschen zu erzeugen, die ihren psychischen Problemen bewusst begegnen, die sich gezielt Rat suchen oder in Behandlung begeben. Sie schaffen es dadurch, ihrem Leben eine positive Wendung zu geben, wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Und sie verhindern dadurch, im Weiteren sich selbst oder anderen durch ihre psychischen Probleme zu schaden.“

Die Serienfolgen:

1. Wege aus der Krise, Wege in die Hilfe.
2. Leben mit Halluzinationen und Erschöpfung.
3. Depressionen rauben alle Kräfte.
4. Auch seelische Verletzungen hinterlassen Narben.
5. Leben in ständiger Angst.