WIR gemeinsam: Leben mit Halluzinationen und Erschöpfung

Jeder vierte Deutsche leidet im Laufe seines Lebens an einer psychischen Krankheit. In unserer Serie „Wenn das Leben Kopf steht“ stellt die Lebenshilfe Wolfenbüttel Menschen vor, die unvorbereitet durch psychische Erkrankungen mitten aus dem Leben gerissen werden. In der Werkstatt für Industriearbeit (WIR) der Lebenshilfe konnten sie nach einem langen Leidensweg neuen Mut fassen. „Der Mensch kann auch mit schwierigen körperlichen Leiden noch Großartiges vollbringen. Wenn aber die Psyche nicht mehr mitspielt, ist das vorbei“, verdeutlicht Psychologin Angelika Thiele. Die Lebenshilfe will für das wichtige Thema „Psychische Gesundheit“ sensibilisieren. „Damit die Menschen aufeinander acht geben – und mehr Verständnis für diese Krankheiten herrscht“, sagt Axel Koßmann von der Öffentlichkeitsarbeit der Lebenshilfe.

Wolfenbüttel. Carsten Schulze arbeitet seit 2013 in den Räumlichkeiten der Werkstatt für Industriearbeit. Zunächst arbeitete er im Berufsbildungsbereich, seit 2015 im Arbeitsbereich Metall der WIR. Schulze lernte ursprünglich Bürokaufmann und arbeitete zuletzt bei einem Bestatter, bis ihn Depressionen und Halluzinationen in die psychiatrische Behandlung zwangen. Dabei könnten auch eine Überbelastung und Mobbing im Job, sowie das unverarbeitete Erleben traumatischer Bilder eine Rolle gespielt haben, wie Schulze berichtet.

„Ich wurde erst depressiv und hing immer nur durch. Erst wollte ich nicht zum Arzt gehen. Dazu kamen Halluzinationen“, beschreibt Schulze seinen Zustand vor der Behandlung. „Wenn ich eine Tablette vergesse, dann sehe ich Spinnen an der Decke laufen und höre Stimmen. Nicht laut, nicht befehlend, nur kommentierend.“

Die fachliche Diagnose für sein Leiden lautet Schizoaffektive Störung. Bei dieser Diagnose können sowohl affektive als auch schizophrene Symptome auftreten. Beides ist im Bereich der Psychosen einzuordnen. Betroffene leiden gleichzeitig an depressiven Symptomen wie Schlafstörungen und Niedergeschlagenheit sowie an Halluzinationen und Zwangshandlungen oder -gedanken aus dem schizophrenen Spektrum. Obwohl eine genetische Disposition als Ursache für die Schizoaffektive Störung nicht ausgeschlossen werden kann, geht man in der Wissenschaft von einem engen Bezug zu Belastungen im Lebensalltag aus, welche oft auch sinnhaft die Symptomatik ausgestalten.

In Schulzes Fall liegt ein Zusammenhang mit der beruflichen Laufbahn nahe. „Als ich als Bürokaufmann gearbeitet habe, bin ich gemobbt worden. Man hat mir Material weggenommen und ich kam in Zeitnot. Diese Zeit hat mich psychisch stark mitgenommen. Das war auch das erste Mal, wo ich drei Wochen wegen psychischer Ursachen krankgeschrieben war“, schildert der 56-Jährige. Geholfen hat das wenig. Als es im Büro trotz Versetzung in eine andere Abteilung nicht mehr ging, fing Schulze beim Bestatter an. Eine Tätigkeit, die ihm eigentlich Spaß machte. Jedoch in einem Umfeld, das seine Grenzen nicht respektierte.

Lebenshilfe-Psychologin Angelika Thiele

„Ich musste immer auf Bereitschaft sein beim Bestatter und war Tag und Nacht erreichbar. Einen Monat hab ich mal 30 Tage durchgearbeitet, morgens bis abends. Kein Wochenende, keine Freizeit. Ich bin nur zum Schlafen nach Hause gefahren.“ Aus Pflichtbewusstsein habe er das getan. Das Fehlen von ausreichender Erholungszeit macht jedoch zwangsläufig krank, schlussfolgert Thiele. Zumal, so ergänzt Schulze, hier wohl auch die Ursache für seine Halluzinationen zu suchen sind: „Man bekommt da ja einiges zu sehen: Verbrannte oder geköpfte Menschen, abgerissene Gliedmaßen. Oft hatten wir Glück und die Kripo war vorher schon da. Aber die haben auch eine Seelsorge, der Bestatter nicht.“

„Eigentlich mochte ich Spinnen immer“, kommentiert Schulze. Thiele ordnet ein: „Wenn man Dinge erlebt, die zu viel für einen sind, träumt man oft davon – das ist eine Art der Verarbeitung, ein Selbstheilungsmechanismus. Ebenso wie Träume entstehen auch Halluzinationen aus inneren Bildern, Symbolen und Erinnerungsbruchstücken. Zu schockierende Dinge speichert das Gehirn als Schutzreaktion für die Psyche nur bruchstückhaft ab. „Diese Erinnerungsbruchstücke, auch Trigger genannt, können noch Jahre lang das schockierende Erlebnis innerlich lebendig machen“, erläutert Thiele. „Das kann ein Geräusch, ein Geruch, ein Bild, ein Wort sein – und die Betroffenen sind wieder mitten im Geschehen“.

Dass Betroffene solcher traumatischen Belastungserfahrungen erst eine Zeit nach dem Erlebten darunter leiden, ist dabei nichts Ungewöhnliches. Das Phänomen ist beispielsweise von Kriegsflüchtlingen bekannt, die in der Situation selbst noch „funktionieren“, hinterher aber unter dem Erlebten leiden. „Wenn der Stress zu Ende ist, bleiben erschreckende Erinnerungen und Erschöpfungsgefühle zurück, mit denen man leben muss. Der Körper holt sich dann die Erholungs- und Verarbeitungsphasen, die er braucht“, ordnet Thiele ein.

Mit der Einstellung auf Antidepressiva gegen die Depressionen und Neuroleptika gegen die audiovisuellen Halluzinationen ging es mit Schulze, wie er selbst sagt, wieder bergauf. „Es gibt aber immer noch Wochen, da hänge ich wie aus heiterem Himmel einfach durch. Da kann ich nicht mal aufstehen“, erklärt Schulze. Meistens dauern solche Phasen bis zu fünf Tage. Diese wiederkehrenden Krisen sind es auch, die eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt für ihn unmöglich machen – ob die Symptome Nebenwirkungen der Neuroleptika oder depressive Symptome sind, sei laut Thiele im Alltag nicht immer leicht zu unterscheiden.

„Ich würde das Tempo nicht schaffen auf dem normalen Arbeitsmarkt“, so ist sich Schulze gewiss. „Ich habe ja zum Teil auch eine Erschöpfungsdepression. Da habe ich Phasen, wo ich hier in der Werkstatt einfach mal schlafe. Wenn ich das in einem normalen Büro tun würde, käme das nicht so gut beim Chef an“, verdeutlicht der 56-Jährige. Dass die Schläfrigkeit auch von den Medikamenten kommen kann, ist ihm bewusst. Die Nebenwirkungen nimmt er in Kauf, es sei leichter für ihn erträglich als mit den Halluzinationen.

Schulze ist anzumerken, dass er in einem Jahr Tagesklinik und etlichen Jahren WIR gelernt hat, mit seiner Krankheit umzugehen. Er ist gern in der Werkstatt: „Man wird hier so gefördert, wie man es braucht. Vielleicht bin ich der langsamste von allen – aber so geht es eben.“ Besonders hart, so erzählt Thiele im Nachgang, habe ihn auch der erste Corona-Lockdown getroffen: „Ich vermute, dass die fehlende Tagesstruktur und Unterforderung den Ausschlag gab. Er verlor den Antrieb und die Halluzinationen steigerten sich ins Unerträgliche.“

Eine Medikamentenerhöhung brachte keine schnelle Besserung. „Er benötigte lange Zeit, um sich wieder davon zu erholen“, meint Thiele. Weitere Unterstützung bekam Schulze dann in Form einer ambulanten Betreuung. Mit dieser zusammen können Dinge des Alltags erledigt werden, die wegen der häufigen Erschöpfung sonst liegen bleiben. Auch kümmert sich die Betreuung um gesundheitliche Aspekte in Form von Spaziergängen an der frischen Luft. „Zusammen mit der Rückkehr in die WIR und der gewohnten Tagesstruktur ging es dann wieder aufwärts“, fasst Thiele zusammen.

Laut der Lebenshilfe-Psychologin Thiele zeige dieser Fall, dass immer mehrere Aspekte zum Ausbrechen aus einer akuten psychischen Krise gehören. „In diesem Beispiel ist es nach dem Lockdown die zurückgewonnene Tagesstruktur und sinnvolle Tätigkeiten mit sozialen Kontakten, die ambulanten Hilfen, um das Privatleben wieder besser zu bewältigen und sich mehr Bewegung zu verschaffen, sowie die jeweils angepasste Dosis an Medikamenten.“ Schulze wünscht sich nun, dass er bis zur Rente bleiben kann. „Das Umfeld hier ist gut. Es gibt kein Mobbing und es tut mir gut, hier zu sein“, zeigt sich Schulze zufrieden. „Die Arbeit in der WIR baut mich langsam aber sicher auf.“

Die Serienfolgen:

1. Wege aus der Krise, Wege in die Hilfe.
2. Leben mit Halluzinationen und Erschöpfung.
3. Depressionen rauben alle Kräfte.
4. Auch seelische Verletzungen hinterlassen Narben.
5. Leben in ständiger Angst.

Zum Bild: Das Schild über der Einfahrt der Werkstatt für Industriearbeit in Wolfenbüttel.