Jeder vierte Deutsche leidet im Laufe seines Lebens an einer psychischen Krankheit. In unserer Serie „Wenn das Leben Kopf steht“ stellt die Lebenshilfe Wolfenbüttel Menschen vor, die unvorbereitet durch psychische Erkrankungen mitten aus dem Leben gerissen werden. In der Werkstatt für Industriearbeit (WIR) der Lebenshilfe konnten sie nach einem langen Leidensweg neuen Mut fassen. „Der Mensch kann auch mit schwierigen körperlichen Leiden noch Großartiges vollbringen. Wenn aber die Psyche nicht mehr mitspielt, ist das vorbei“, verdeutlicht Psychologin Angelika Thiele. Die Lebenshilfe will für das wichtige Thema „Psychische Gesundheit“ sensibilisieren. „Damit die Menschen aufeinander acht geben – und mehr Verständnis für diese Krankheiten herrscht“, sagt Axel Koßmann von der Öffentlichkeitsarbeit der Lebenshilfe.
Wolfenbüttel. Depressionen gehören zu den häufigsten und am meisten unterschätzten psychischen Erkrankungen. Der deutschen Depressionshilfe zufolge,
waren in Deutschland im Jahr 2016 rund 5,3 Millionen Menschen davon betroffen. Depressionen sind häufig die Folge von Stress und traumatischen Ereignissen, wie bei Christine Nolte. Die 60-Jährige arbeitet in der Werkstatt für Industriearbeit (WIR) in Wolfenbüttel und zeigt mit Stolz ihre Arbeiten in der Näherei. Die gelernte Bürokauffrau gab ihren Job für die Pflege ihres kranken Mannes auf. Mit seinem
Tod nach fünf Jahren häuslicher Pflege nahm ihr langer Leidensweg gerade erst seinen Anfang.
„Im ersten Jahr nach dem Tod meines Mannes hatte ich genug mit den Erbschaftsverhältnissen zu tun. Auch familiär gab es viele Probleme, ich musste zum Beispiel für meine Eltern ein Heim suchen“, fasst Nolte die damalige Situation zusammen. Anschließend versuchte sie, als Alltagsbegleiterin für Demenzkranke beruflich wieder Fuß zu fassen. „Aber das hat mich alles an meinen Mann erinnert. Außerdem gab es von an Angehörigen oft viel Gegenwind. Abends habe ich oft nur dagesessen und gegrübelt. Irgendwann habe ich dann aufgegeben – bin nicht mehr zu den Patienten gefahren, ohne Bescheid zu sagen. Das kenne ich so nicht von mir“, schildert die 60-Jährige weiter.
Rückzug in die Isolation
Mit dem wachsenden Stress und fehlender Entlastung nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes folgte der Zusammenbruch: „Ich habe zu Hause die Türklingel abgestellt, in der Wohnung sah es aus wie bei Messis. Ich hatte auch Suizidgedanken. Aber gemacht hätte ich es nicht. Ich habe eigentlich gar nicht gemerkt, dass ich krank wurde. Mir wurde es erst bewusst als ich schon lange keinem mehr die Tür geöffnet habe und meine Tante die Polizei rief.“
Schnelle Hilfe kann Leben retten
Dieser Moment sei wie ein Weckruf für sie gewesen. Sie bekam die Adresse des Sozialpsychiatrischen Dienstes in die Hand, zu dem sie schließlich – nachdem sie die Kraft dafür finden konnte – den ersten hilfesuchenden Kontakt aufnahm. „Es zeigt, wie wichtig es sein kann, jemandem in der Not persönlich die Hand zu reichen, ein Signal zu setzen, nicht wegzuschauen, Hilfsangebote und Auswege aus der Krise aufzuzeigen“, erklärt Angelika Thiele vom psychologischen Dienst der WIR in Wolfenbüttel. Ein solches Eingreifen, so die Psychologin, könne unter Umständen Leben retten.
Mehr als einfach „traurig“
Im Falle eines akut drohenden Selbstmordes wäre der Notruf mit anschließender Einweisung in eine psychiatrische Klinik das Mittel der Wahl. „Aber soweit war ich noch nicht“, meint Nolte. Die zweifache Reha in Bad Kissingen brachte immer nur kurzzeitige Besserung. Auch mit einem mehrwöchigen stationären Aufenthalt in der Klinik Dr. Fontheim in Liebenburg war es noch nicht getan – es folgte der Besuch der AWO-Tagesklinik. „Dort hat man mir gesagt, dass ich nicht mehr richtig arbeiten kann, dass ich wahrscheinlich Berufsunfähigkeitsrente beantragen muss. Die habe ich aber nicht bekommen, weil ich fünf Jahre nicht gearbeitet hatte.“
Depressionen sind mehr als nur Trauer und Niedergeschlagenheit. Psychologin Thiele erklärt: „Die Antriebslosigkeit in einer Depression ist nicht vergleichbar mit der herkömmlichen Müdigkeit oder Energielosigkeit gesunder Menschen.“ Positive Stimmungen sind kaum mehr möglich. Man empfindet keine Freude mehr an Hobbys oder sozialen Kontakten.
Der Körper leidet mit
Betroffene leiden allerdings auch körperlich – Schlaflosigkeit, Appetitstörungen und sogar körperliche Schmerzen können den Zustand weiter verschlimmern und die Abwärtsspirale der Depression bis zum Suizid abwärts bewegen. 2020 nahmen sich laut dem Statistischen Bundesamt 9.206 Personen das Leben. Damit übersteigt die Zahl der Selbstmorde die der Verkehrstoten etwa um das Dreifache.
Das Verständnis fehlt
Viele Erkrankte werden dabei von ihrem Umfeld nicht ernst genommen. Auch Nolte kennt das: „Man hört Sätze wie ‚du tust nur so‘, aber die wissen gar nicht, wie man sich fühlt.“ Auf die Hilfe ihrer Familie, so Nolte, habe sie nicht zählen können. Das Verhältnis sei bereits seit der Kindheit schwierig gewesen. Dabei wäre die Unterstützung durch Angehörige und Freunde so wertvoll, wie die Psychologin Thiele weiß: „Diejenige Hilfe anzubieten, die angenommen werden kann, und die Geduld aufzubringen, die notwendig ist, kann Angehörige jedoch an ihre eigene Belastungsgrenze bringen. Es kommt leicht zu Missverständnissen, ungerechtfertigten Schuldzuweisungen und dem Gefühl von Hilflosigkeit. Es ist gut, wenn Angehörige sich ebenfalls Unterstützung suchen, zum Beispiel über die Selbsthilfe-Kontaktstelle oder ein Beratungsangebot. Und sie sollten im Alltag gut auf ihre eigenen Energiequellen achten.“
Nolte verbrachte nach ihrem Zusammenbruch viel Zeit in Kliniken und ambulanten Einrichtungen. Zahlreiche körperliche Erkrankungen wie Diabetes, Herzinsuffizienz und Arthrose erschwerten ihre Genesung und die Perspektive auf eine geregelte Arbeitstätigkeit zusätzlich. Sozialarbeiter Stephan Hoffmann vom AWO Psychiatriezentrum zeigte ihr schließlich aus der Tagesklinik heraus die WIR. „Ich habe am selben Tag den Antrag gestellt, dass ich hier arbeiten möchte – zuerst kam eine Absage. Wir haben Widerspruch eingelegt.“
Volle Kraft, auch im Lockdown
Wie sie dabei ausgerechnet in die Näherei kam, erklärt Nolte so: „Häkeln und stricken haben mir schon immer Spaß gemacht. Ich habe auch in der Reha Teddybären genäht und gestopft.“ So verbrachte sie auch die für viele Mitarbeiter der WIR schwere Zeit des ersten Corona-Lockdowns. „Ich habe zu Hause Masken genäht. Sehr viele davon Auch für Kindergärten – denn Kindergesichter brauchten ja kleinere Masken“, erzählt die 60-Jährige stolz.
Das Beste aus der Situation machen
Seitdem sie in der WIR arbeite, geht es laut Nolte mit ihrer Gesundheit bergauf. „Ich habe mein Selbstbewusstsein hier erst richtig gefunden. In den sechs Jahren habe ich viel gelernt“, so Nolte. Psychologin Thiele sieht die Ursache dafür hauptsächlich in den sozialen Kontakten, der sinnvollen Tätigkeit und der regelmäßigen Unterstützung durch Fachkräfte bei persönlichen Themen: „Sie kann wieder Fröhlichkeit und Zuversicht ausstrahlen, und sie zeigt, wie man das Beste aus seiner Situation machen kann.“ Das ambulant betreute Wohnen von der AWO hat die Lebenshilfe übernommen. Ihre gesetzliche Betreuerin stellte ihr außerdem eine Haushaltshilfe an die Seite. Die wiedergewonnene Freude an Hobbys und die ehrenamtliche Tätigkeit bei den Landfrauen und in der Kirche spiegeln den deutlich verbesserten Zustand wider.
Es kann jeden treffen
Von Zeit zu Zeit holt Nolte ihre Erkrankung ein. Meistens bei unerwarteten Stressmomenten: „Dann bin ich ganz wackelig auf den Beinen, hab zu nichts Lust und stell Telefon und Klingel ab. Aber das passiert inzwischen sehr selten.“ Für die Zukunft hofft die 60-Jährige, noch besser mit ihrem Leiden umgehen zu können. „Ich hoffe, dass Depressionen als Krankheit in der Gesellschaft künftig besser anerkannt werden. Es kann jeden treffen, jung oder alt“, rät Nolte abschließend und ergänzt: „Sich Hilfe zu holen ist das Wichtigste und keine Schande!“
Die Serienfolgen:
1. Wege aus der Krise, Wege in die Hilfe.
2. Leben mit Halluzinationen und Erschöpfung.
3. Depressionen rauben alle Kräfte.
4. Auch seelische Verletzungen hinterlassen Narben.
5. Leben in ständiger Angst.
Zum Bild: Angelika Thiele, Psychologin der Lebenshilfe, und Mitarbeiterin Christine Nolte an ihrer Nähmaschine in der WIR.