Ein Tag im Siebenstein

Der Donnerstag ist rot – das ist allen klar. Aber wonach riecht er? „Apfel“, sagt Lenny, nachdem er an einem Fläschchen mit ätherischem Öl geschnuppert hat. „Erdbeere“, vermutet Luca. Dann kommt die Auflösung von Erik Roering: „Es ist Zimt!“ Der Sozialpädagoge leitet die Tigerenten-Gruppe im Kindergarten Siebenstein der Lebenshilfe Wolfenbüttel. Jeden Tag beginnt er mit den sieben Kindern im Morgen-Kreis und versucht, alle Sinne zu wecken.

Roehring arbeitet mit Unterstützer Kommunikation. Jedes Kind finde dabei einen Anknüpfungspunkt. Der Siebenstein ist ein heilpädagogischer Kindergarten. Das bedeutet: Alle „Tigerenten“ haben eine eine Behinderung oder eine Entwicklungsverzögerung. Manche brauchen viel Unterstützung, andere sind schon deutlich weiter. „Unser System gibt jedem Kind die Chance zu kommunizieren“, erklärt Roering, Noch dazu vermittele es Strukturen: Wochentage, Jahreszeiten, Tagesabläufe, aber auch Körperteile, Farben, Zahlen – das sollen die Kinder lernen, jeder auf seine Weise und in seinem Tempo. Die Erzieher gehen auf die jeweiligen Entwicklungsstände der Kinder ein. Möglich macht das die kleine Gruppengröße mit hohem Betreuungsschlüssel – sechs bis acht Kinder besuchen die insgesamt zehn Gruppen. Roering wird von Erzieherin Kerstin Drygalla und Praktikantin Neele Tomke unterstützt.

Das klingt nicht unbedingt nach Inklusion, bei der möglichst Kinder mit und ohne Behinderung zusammen spielen. „Wir haben hier ein exklusives Angebot in Zeiten der Inklusion – eine Alternative“, erklärt Karin Bartholomäus, Leiterin des Kindergartens. Kleine Gruppengröße, individuelle Förderung sowie spezielle Therapiemöglichkeiten – alles Teile dieses Angebots, das reguläre Kindergarten bislang noch nicht bieten können.

Die Tigerenten haben ihren Morgenkreis beendet. Nach einer freien Spielzeit geht’s jetzt weiter in der Turnhalle mit dem Trampolin-Springen. Für Rony – kein Problem. Er springt am höchsten. Luca bewegt sich lieber langsam und mit vorsichtigen Schritten über das Sportgerät. Aysha, die jüngste „Tigerente“, jagt krabbelnd einem Luftballon hinterher – sehr zur Freude der Erzieher. „Sie hat in kürzester riesige Fortschritte gemacht“, sagt Drygalla lächelnd. Alle Kinder springen einzeln nacheinander und üben dabei spielerisch Orientierung, Bewegungssicherheit und Risikokompetenz. Die anderen Kinder beschäftigen sich derweil beim freien Toben in der Halle.

„Bewegung ist die Tür zum Lernen“, sagt Daniela Henke, Motopädin im Siebenstein. Attraktive Spiel- und Erlebnisräume seien dafür entscheidend. Besonders geeignet sei das Trampolin. „Kinder können hier geschützt die eigenen Grenzen kennenlernen“, sagt die Motopädin. Außerdem erleben und lernen sie dabei spielerisch in Bewegung räumliche Begriffe wie oben und unten sowie Farben und Zahlen. Die Turnhalle gehört zu den absoluten Highlights im Programm. Noch besser ist nur das Therapiepferd Sam. Das steht den Kindergarten-Gruppen allerdings deutlich seltener zur Verfügung.

Einrichtungsleiterin Bartholomäus sagt ganz offen: „Der Siebenstein ist nicht für jedes Kind mit Förderbedarf optimal.“ Auf der anderen Seite gebe es aber viele Kinder, die in regulären Kindergärten nicht optimal gefördert werden und dann in den Siebenstein wechseln. „Leider oft erst im letzten Jahr vor der Einschulung.“ Viele Eltern wüssten wenig über den Themenbereich Behinderung. „Für die ist das Label Lebenshilfe manchmal negativ behaftet. Dabei wäre der Siebenstein vielleicht genau das Richtige für ihr Kind“, so Bartholomäus. Sie betont, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oft riesige Fortschritte machen. Für Rony steht etwa ein Wechsel in einen anderen Kindergarten kurz bevor.

Aysha hat da noch einen deutlich längeren Weg vor sich. Sie ist erst seit wenigen Wochen im Siebenstein. „Ich wollte erst nicht, dass meine Tochter hier hingeht“, erzählt Amina Madami. „Ich hatte Angst, dass die Kinder hier aggressiv sind. Das wollte ich meiner Tochter nicht antun.“ Doch Madami informierte sich über den Siebenstein, besichtigte den Kindergarten, kam noch einmal mit Aysha wieder. „Nach und nach reifte die Gewissheit, dass es genau der richtige Ort für sie ist“, sagt Madami heute. Von der rapiden Entwicklung ihrer Tochter ist sie jetzt hellauf begeistert.

11.30 Uhr: Bei den Tigerenten ist Mittagspause angesagt. Tischdienst hat Lenny. Mit dem Küchenwagen geht er zur Essensausgabe. Es gibt Nudeln mit Tomatensauce. „Auch die gemeinsamen Mahlzeiten verstehen wir als Möglichkeit, die Kinder zu fördern“, sagt Roehring. Am Mittagstisch wird etwa über Lebensmittel gesprochen, aber vor allem auch viel gelacht.

Zum Abschluss des Tages basteln die Tigerenten Regenrohre weiter – „ein echtes Langzeit-Projekt voller kleiner Erfolgserlebnisse“, wie Drygalla berichtet. Papprohre werden bearbeitet, Nägel hineingehämmert, mit Erbsen befüllt, bemalt, mit Schnipseln beklebt – alles über viele Wochen hinweg. „Das alles schult den Krafteinsatz, die Feinmotorik und die Kreativität“, sagt die Erzieherin, während die ersten Eltern inzwischen ihre Kinder abholen. Für die meisten geht es am Ende des Kindergarten-Tages allerdings mit dem gelben Lebenshilfe-Bus nach Hause, der sie schon morgens abgeholt hatte.

Praktikantin Neele Tomke hämmert mit Luca Nägel in ein Papprohr.
Erzieherin Kerstin Drygalla freut sich über Ayschas Fortschritte.
Lenny hat Tischdienst. Neele Tomke hilft ihm.
Motopädin Daniela Henke spielt mit Rony „Mensch ärgere dich nicht“ auf dem Trampolin.