Arbeitskollegen müssen miteinander kommunizieren können. Dazu sollten sie möglichst dieselbe Sprache sprechen und verstehen. Doch was ist, wenn ein Teil der Mitarbeiter gehörlos ist? Diese Situation besteht etwa in der Helmsteder Lebenshilfe-Werkstatt an der Beendorfer Straße. Doch hier lernt eine Gruppe der Arbeiter mit geistiger Behinderung freiwillig einzelne Gebärden, um sich nicht nur in der Einrichtung mit Hörgeschädigten verständigen zu können.
Janin Kaminski, 32, unterhält sich mit ihrem Freund. Sie sitzen sich gegenüber, kein Tisch steht zwischen ihnen. Es ist still im kahlen Raum. Zu Beginn deutet sie mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand auf ihn. Anschließend setzt sie eine geschlossene Bewegung um: Ihr nun nach oben gestreckter Zeigefinger – der Handrücken zeigt zu ihr – weist zunächst auf ihr rechtes Ohr, bevor sie den Arm in U-Form unter ihrem Gesicht entlang bewegt, bis der Finger von links auf den Mund deutet. Zum Schluss zeigt sie erneut auf ihren Freund. In der Gebärdensprache fragt sie: „Bist du gehörlos?“.
Janin Kaminski bietet ihrem Gesprächspartner
einen Kaffee an. Die Gebärde dazu ist der
Kaffeemühle nachempfunden. Andreas Hein
(links) beobachtet die stille Unterhaltung.
„Das Zeichen für ,du‘ am Anfang und auch am Ende weist auf eine Frage hin“, erklärt Marion Bertram ihrem achtköpfigen Kursus. Seit Anfang dieses Jahres üben sie Gebärden, immer am ersten Donnerstag im Monat. Die Teilnehmer arbeiten allesamt in einer Helmstedter Lebenshilfe-Werkstatt für Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Die Atmosphäre in der Runde ist freundschaftlich und entspannt. Trotzdem wartet Janin Kaminski etwas ungeduldig – jedoch mit einem Lächeln im Gesicht – auf die Antwort. Benjamin Künne, ihr Freund, legt los: Den erhobenen rechten Zeigefinger bewegt er seitlich hin und her („Nein“). Dann deutet er auf sich, legt den Finger daraufhin an sein Ohr und bewegt ihn nach rechts weg („Ich höre“).
Das Paar hat die Übung gemeistert und unterhält sich nun im gesprochenen Deutsch. Auch die anderen Kursteilnehmer diskutieren über das Gelernte. Deutsche Worte und lockeres Kichern hallen durch den großen Allzweckraum, den die Gruppe für das Gebärdentraining nutzt. Bis auf eine Ausnahme können alle Teilnehmer sprechen. Doch ihr eigenständiger Wunsch war es, die Gebärdensprache zu lernen.
„Wir wollen unsere gehörlosen Kollegen besser verstehen“, berichtet Andreas Hein, 47. In der Lebenshilfe-Werkstatt stellt er Teile für Volkswagen her. Da sei es wichtig, zum Beispiel die Gebärde für „Schmerzen“ zu kennen, falls mal ein Unfall passieren sollte.
Wenn Andreas Hein zum ersten Mal mit Hörgeschädigten kommuniziert, sind diese freudig überrascht. Und sogleich wollen sie sich mit ihm per Gestik und Mimik unterhalten. „Wenn die Kollegen jedoch zu schnell sind, stehe ich auf dem Schlauch“, gibt er gerne zu.
„Es sind eher einzelne Worte als ganze Sätze, die die Gruppe lernt“, erklärt Kursleiterin Marion Bertram. Es handele sich nicht um einen Gebärden-Lehrgang, sondern um eine Art Crash-Kursus. Dann steht sie vor der Tafel in dem großen Mehrzweckraum der Lebenshilfe. Die Tafel braucht sie nicht, stattdessen setzt Marion Bertram ihre Arme, Hände – und Gesichtsausdrücke – ein. Die Mimik kann dem Satz den entscheidenden Inhalt geben. „Fühlt man sich schlecht, sollte man bei der entsprechenden Gebärde nicht grinsen“, verdeutlicht die Expertin.
Die Gruppe übt häufig durch Rollenspiele. Dann spielt jeder
eine Person einer Familie. Auch Kursleiterin Marion Bertram
(von rechts) und Berufspraktikantin Janina Prüfer spielen
Familienmitglieder: Sie sind Hund und Katze.
Schon nach wenigen Treffen haben die Kursteilnehmer erste Erfahrungen sogar außerhalb der Einrichtung gemacht. So konnte Benjamin Künne einen aufkeimenden Streit schlichten. Zwischen den engen Regalreihen eines Supermarktes stand eine Gruppe Gehörloser und blockierte Jugendlichen ohne Absicht den Weg.
Diese wussten nichts von den Beeinträchtigungen und fühlten sich sogleich gereizt, als die Gruppe auf ihre Worte nicht reagierte. Und dann begannen die Jugendlichen zu pöbeln. Künne, der die Szene sah, konnte jedoch vermitteln und das Missverständnis friedlich aufklären.
Nicht alle nennen Benjamin Künne bei seinem Namen. Allein um die acht Buchstaben seines Vornamens im Gebärden-Alphabet zu zeigen, braucht es Zeit, Geduld und Konzentration. Darum geben sich Gehörlose gegenseitig Namen. Für Künne steht in der Lebenshilfe-Übungsgruppe das Symbol für Elefant (mit einer Hand an die Nase greifen, den anderen Arm durch den entstandenen Ring stecken – so wie es Kinder machen). Seiner Freundin Janin Kaminski wurde passend die Maus-Geste zugeordnet (ein Finger zieht eine flinke Spur über die Handfläche der anderen Hand).
Körpereigenschaften wie Andreas Heins markantes Kinn (Daumen und Zeigefinger seitlich am Kinn hinunterfahren lassen – wie es Kinnbartträger manchmal tun) und Marion Bertram wildes Haar (mit beiden Händen den Haarschopf nachzeichnen) stehen häufig symbolisch für deren Namen. In der kleinen Helmstedter Gruppe, in der gleich drei Frauen Marion heißen, ist das auch ganz sinnvoll.
Bei jedem einstündigen Treffen lernen die acht Kursus-Teilnehmer neue Begriffe, üben Dialoge und wiederholen Situationen. Ihr Lehrgang hat keine zeitliche Beschränkung. „Wir machen einfach immer weiter“, verspricht Marion Bertram. Materialien gebe es etwa im Internet zuhauf. Die Mitarbeiterin des Sozialdienstes hat vor vielen Jahren in einem Reha-Zentrum für Hörgeschädigte gearbeitet und dort die Gebärdensprache gelernt, die sie seit dem beruflich begleitet.