Umsetzung der Inklusion in Niedersachsen könnte verfassungswidrig sein

Die Inklusion, wie sie das Niedersächsische Schulgesetz vorsieht, ist womöglich verfassungswidrig. Das erfuhren die Börßumer Kerstin Wisse und Adrian Dorf vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg. Die Eltern des achtjährigen Mirko hatten mit dem Wolfenbütteler Anwalt Jan Mielbrecht erfolgreich dafür geklagt, dass ihr Sohn eine Förderschule besuchen darf. Jetzt wollen sie anderen Familien, die bald vor einem ähnlichen Problem stehen könnten, Mut machen. Die Börßumer bilden damit die Speerspitze des Widerstands gegen die derzeitige Umsetzung der schulischen Inklusion in Niedersachsen. Sie haben landesweit als erstes Elternpaar dagegen geklagt.

Der Rechtsanwalt Jan Mielbrecht (von links) unterstützte das Elternpaar Kerstin Wisse und Adrian Dorf. Ihr Sohn Mirko darf jetzt auf eine Förderschule gehen.

Für Mirko fing es schon in der frühen Kindheit an. Er fiel im Regelkindergarten in Börßum wegen seines Verhaltens auf. Der Junge beklagte sich oft. Er wolle nicht mehr dorthin gehen, fühlte sich unwohl. Nach Gesprächen mit der Lebenshilfe Wolfenbüttel entschieden die Eltern, Mirko in den heilpädagogischen Kindergarten Siebenstein der Lebenshilfe zu schicken. „Plötzlich fühlte er sich wieder wohl‟, berichtet die Mutter. Dann rückte die Einschulung näher. Mirko sollte auf die Förderschule am Teichgarten gehen. In Gesprächen mit dem Kindergarten und der Schulärztin entschieden die Eltern, ihren Sohn ein Jahr zurückzustellen. Er war noch nicht so weit. „Hätten wir ihn damals eingeschult, hätten wir uns eine Menge Ärger erspart‟, blickt der Vater zurück.

Das Problem: In der Zwischenzeit wurde ein Teilabschnitt der Inklusion landesweit umgesetzt. Die Konsequenz: Es gab zum Schuljahresbeginn 2013/2014  keine ersten Klassen an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen und emotionale Entwicklung mehr. Mirko musste an der regulären Grundschule Börßum eingeschult werden. „Wie viele andere Grundschulen landesweit, war diese nicht auf die Inklusion eingestellt“, urteilt Anwalt Mielbrecht, der das Börßumer Elternpaar juristisch vertritt. „Es gab keine Sonderpädagogen, keine entsprechende Ausstattung, und das Personal war nicht zusätzlich geschult‟, so Mielbrecht.

Auf Mirko konnte keine Lehrkraft richtig eingehen. Er wurde oft als störend empfunden für den Unterricht und seine Mitschüler. Eltern beschwerten sich. „Mirko wurde oft in einen separaten Raum gesetzt, wo er Bilder ausmalte‟, berichtet der Vater. Auch ein zweimonatiger Aufenthalt in der Klinik in Königslutter blieb dem Kind nicht erspart. Es sollte ein Gutachten erstellt werden, um den Jungen mit Medikamenten ruhig zu stellen.

Mittendrin erfuhren Mirkos Eltern von einem Vertreter der Landesschulbehörde, dass ihr Sohn vielleicht doch auf die Schule am Teichgarten gehen könnte. Jetzt ließen die beiden Börßumer nicht locker, fragten in Braunschweig bei der Behörde nach, bekamen aber keine Antwort. Während das Schuljahr schon zur Hälfte abgelaufen war, sahen sie ihre Chancen mehr und mehr schwinden. Also nahmen sie Kontakt zu Mielbrecht auf.

Inzwischen hatte selbst die Grundschule Börßum einen Antrag auf Überweisung Mirkos an die Teichgartenschule gestellt. Sie sahen sich nicht in der Lage, den Jungen zu unterrichten, erzählen die Eltern. Als dieser Antrag abgelehnt wurde, „hatten wir das Stück Papier gegen das wir vor dem Verwaltungsgericht  klagen konnten‟, erklärt Mielbrecht. Die Behörde hatte nicht nur den Antrag abgelehnt, sondern gleichzeitig festgestellt, dass Mirko einen erhöhten Förderbedarf besitzt. „Ein Widerspruch‟, findet der Anwalt. Rechtlich betrat er mit der Klage Neuland. „Einen solchen Fall gab es bisher noch nicht‟, so Mielbrecht.

„Jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung“, argumentiert der Jurist, „dieses Recht hat Verfassungsrang. Mit der Inklusion, wie sie hier umgesetzt wird, nimmt man den Kindern Ressourcen, ohne neue zu schaffen.‟ Dem Verwaltungsgericht Braunschweig war sofort klar: Mirko müsse auf eine Förderschule gehen, zur Not eine Klasse höher. Doch die Landesschulbehörde legte Widerspruch ein. Der Fall ging zum Oberverwaltungsgericht.

Dieses fasste kurz vor Ende des Schuljahres 2013/2014 den Eil-Beschluss, dass Mirko im darauf folgenden Schuljahr die Teichgartenschule besuchen dürfe. „In dieser Entscheidung argumentierte das Gericht, dass die Inklusion, so wie sie in Niedersachsen umgesetzt wird, womöglich verfassungswidrig sei‟, erklärt Mielbrecht. Dies könnte zum kommenden Schuljahresbeginn wieder relevant werden. Denn dann wird es, so sieht es eine geplante Änderung des niedersächsischen Schulgesetzes vor, keine erste Klasse mit dem Förderschwerpunkt Sprache mehr geben. Dieser soll wie zwei Jahre zuvor der Schwerpunkt Lernen abgeschafft werden. „Ich erwarte, dass es da einige ähnliche Klagen geben wird‟, sagt Mielbrecht.  

Mirko fühlt sich jedenfalls wieder wohl. „Ich gehe jetzt gern zur Schule‟, sagt der Achtjährige, der die dritte Klasse besucht. Seine Eltern bestätigen, dass auch seine Leistungen durch die kleinen Klassen und die hohe Förderung sich deutlich verbessert haben. „Es gibt jetzt regelmäßig Lob von seinem Klassenlehrer“, erzählt Mirkos Mutter.