„Menschen mit Behinderungen sind in Deutschland längst ein Teil der Gesellschaft. Es gibt aber natürlich immer Verbesserungspotenzial“, sagt Bernd Schauder anlässlich des anstehenden Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen am 5. Mai. Wo früher der Protest für Grundrechte stand, geht es jetzt vermehrt um Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe. Der Geschäftsführer der Lebenshilfe Helmstedt-Wolfenbüttel gGmbH hat eine enorm große Hilfs- und Spendenbereitschaft in der Region wahrgenommen.
Neue Bedingungen für die Arbeit der Lebenshilfe hat erst kürzlich eine umfangreiche Gesetzesreform geschaffen: das Bundesteilhabegesetz und ein neues Pflegestärkungsgesetz. Beide sollen die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen stärken und regeln die Finanzierung. Schauder betont, dass ein Umdenken auch in der Politik stattgefunden habe. „Es besteht aber oftmals ein systematisches Problem in der Umsetzung.“ Da herrsche üblicherweise ein Schubladen-Denken. „Dabei würde es sich lohnen, über den Tellerrand hinauszuschauen. So könnte man mit dem gleichen Budget oftmals viel mehr erreichen“, erklärt Schauder.
Erschüttert seien Schauder und seine Kollegen gewesen, als sie kürzlich die „Wallraff-Reportage“ aus Werkstätten und Wohnheimen anderer Einrichtungen gesehen haben. Dort wurden Missstände aufgedeckt, etwa wie Betreute misshandelt werden. „Bei uns gilt stets der Leitsatz eines gewaltfreien Miteinanders“, betont Schauder in diesem Zusammenhang. Die Lebenshilfe Helmstedt-Wolfenbüttel mache sich zu dem Thema seit vielen Jahren explizit und systematisch Gedanken. Zum Thema gewaltfreies Miteinander gibt es regelmäßig Aktionen – etwa Ausstellungen – sowie feste Ansprechpartnerinnen. Im kommenden Jahr sei ein Mitmach-Theater geplant. Im vergangenen Jahr wurde zudem ein neues Leitbild von allen Mitarbeitern und Beschäftigten erarbeitet und verabschiedet. Zudem werde in diesem Jahr erstmals eine Frauen-Beauftragte aus dem Kreis der Beschäftigten gewählt werden. „Der liebe- und respektvolle Umgang miteinander steht bei uns an erster Stelle. Dafür überprüfen wir uns selbst immer wieder aufs Neue“, erklärt der Lebenshilfe-Geschäftsführer.
Mit dem Bundesteilhabegesetz wurde in Deutschland erstmals die UN-Konvention zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen umgesetzt, die schon seit zehn Jahren besteht. „Dadurch ist viel Schwung ins System gekommen“, findet Schauder. Die Lebenshilfe Helmstedt-Wolfenbüttel hatte – wie viele andere Menschen und Institutionen – in Hannover und Berlin vor der Gesetzes-Verabschiedung demonstriert. „Es bestand die Gefahr, dass einzelne Menschen mit ihren Bedürfnissen hinten herunterfallen“, sagt Schauder zum ersten Gesetzesentwurf. Durch die Demonstrationen hätten aber auch die Belange von Menschen mit Behinderungen wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen.
„Jetzt werden sicherlich neue Ideen aufkommen“, blickt Schauder nach vorn. Demnach werden etwa die Betreuungs-Angebote künftig individueller auf die Bedürfnisse der einzelnen Menschen zugeschnitten sein. Das Problem: Die Kosten dürfen dabei insgesamt nicht steigen. Wie das funktioniert, werde sich noch zeigen müssen.
In Wolfenbüttel und Helmstedt unterhält die Lebenshilfe Einrichtungen für Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen sowie Wohn-, Betreuungs- und Arbeits-Angebote für Erwachsene. „Unsere Systeme für Kinder sollen künftig noch durchlässiger werden“, berichtet Schauder. Auch in dem Bereich sollen die Angebote noch individueller zugeschnitten sein. Dabei steht die Einrichtung vor einer großen Herausforderung: Es gebe immer mehr Kinder mit sozial-emotionalen Beeinträchtigungen, die einen hohen Betreuungsaufwand mit sich bringen.
Für erwachsene Menschen mit Behinderungen sorgt die Lebenshilfe für berufliche Beschäftigung – entweder in den Werkstätten oder auf dem ersten Arbeitsmarkt. Dafür entwickelt das Unternehmen etwa in Kooperation mit der Carl-Gotthard-Langhans-Schule – der Berufsbildenden Schule für den Landkreis Wolfenbüttel – Ausbildungskurse beispielsweise für Alltagshelfer oder für Hausmeistertätigkeiten. „Wir arbeiten derzeit noch an weiteren Ausbildungsbausteinen, die auch IHK-zertifiziert sein werden“, erklärt der Lebenshilfe-Geschäftsführer. Über das „Budget für Arbeit“ vermittelt die Lebenshilfe regelmäßig Menschen in den ersten Arbeitsmarkt – in Wolfenbüttel etwa an die Firmen MKN, Imperial und Altstadtbäckerei Richter. „Mit unserer Quote sind wir in Niedersachsen führend. Das verdanken wir natürlich den hiesigen Unternehmern, die sich sehr offen demgegenüber zeigen“, sagt Schauder.
Ein weiteres großes Thema ist das Wohnen. Menschen mit Behinderungen haben auch hier dank der neuen Gesetzgebung die Wahl: stationär oder ambulant betreutes Wohnen – im Wohnheim, einer Wohngruppe oder in den eigenen vier Wänden. Je nach den Bedürfnissen lassen sich individuelle Wohnformen finden. In Wolfenbüttel baut die Lebenshilfe derzeit ein inklusives Wohnprojekt in der Schillerstraße. Dort sollen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen leben und wohnen. „Es soll ein buntes Haus werden, in dem sich jeder nach seinen Möglichkeiten wiederfindet“, verspricht Schauder. Ende des Jahres soll der Bau fertig sein. Vorher schon – im September – ist Einzugstermin im Helmstedter Klosterblick. Im neuen Wohnheim stehen dann 24 Plätze zur Verfügung. Dazu entstehen dort fünf Appartements für Einzelpersonen oder Paare.
Zum Bild oben: Klaus Bätcke, Vorsitzender des Wolfenbütteler Lebenshilfe-Vereins (hinten links) und Bernd Schauder überzeugen sich von der guten Arbeitsatmosphäre in der Werkstatt bei den Beschäftigten (von links) Marvin Opczonek, Elke Vogel und Elke Aldrub.