Die Broschüre der Bundesvereinigung Lebenshilfe „Unser Kind wird erwachsen“ berichtet über eine spannende Kreuzfahrt der Lebenshilfe Wolfenbüttel nach Oslo. Mit freundlicher Genehmigung der Bundesvereinigung erscheinen hier der Text von Ina Beyer mit Fotos von Hans D. Beyer.
Montag, 27. Juni, 13 Uhr
Eine bunt gemischte Gruppe erreicht den Anleger der
MS Color Magic im Kieler Hafen. 14 überwiegend junge
Leute haben eine Reise mit dem Titel „Mini-Kreuzfahrt
nach Oslo“ bei der Lebenshilfe Helmstedt-Wolfenbüttel gebucht.
Die Idee dazu hatte Karin Reinecke, die Reiseleiterin
und Organisatorin dieser Fahrt. „Ich bin gelernte Reisebürokauffrau.
Da habe ich meine Liebe zu Kreuzfahrten
entdeckt. Auch Menschen mit Behinderung wollte ich so
etwas gerne anbieten. Diese Schiffsreise ist nun Premiere!“
Heute Morgen ist die Gruppe mit vier Betreuerinnen in
Wolfenbüttel gestartet.
Jetzt bekommen alle ihre Bordkarten ausgehändigt. Aufgeregt
schieben sie sich in einer Menschenschlange durch
die Drehkreuze zum Schiff. 2000 Passagiere wollen an Bord
– immerhin ist die Color Magic das größte Schiff der norwegischen
Reederei Color Line! Dort wird jeder freundlich
begrüßt und zu den Aufzügen gelotst. „Die Fahrstühle sind
ja super!“, rufen Martin und Michael begeistert. In einer
gläsernen Kabine fahren sie hoch bis auf ihr Deck.
14 Uhr
Ein dumpfer, ohrenbetäubender Laut – das Schiffshorn
dröhnt dreimal. Gerade rechtzeitig kommen alle
aufs Sonnendeck, da legt das Schiff auch schon ab. Endlich
geht es los! Rund 1600 Kreuzfahrt-Kilometer liegen
vor uns: nach Oslo und zurück – und das in gerade mal
zwei Tagen!
16 Uhr
Wir sind auf offener See. Lagebesprechung auf dem
Sonnendeck. Alle haben es sich auf den Liegen bequem
gemacht und genießen die Wärme. Einige kennen sich
aus der Werkstatt, andere kommen aus Braunschweig
und Martin aus Berlin. Er ist ein ganz besonderer Kreuzfahrtfan.
Seine Mutter hat die Reise bei lebenshilfe-tours
im Internet entdeckt. „Mama weiß, wie ich für Kreuzfahrtschiffe
schwärme. Sie hat mir geholfen, dass es mit
der Reise klappt!“ Nun spricht Karin Reinecke das Programm
für die nächsten zwei Tage durch: Uns erwarten
unter anderem abendliche Shows an Board mit Musik
und Tanz, und nach Ankunft in Oslo am nächsten Morgen
steht ein Bummel durch die Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten,
wie zum Beispiel dem Königsschloss, auf
dem Programm. Jetzt aber verabredet man sich erstmal
zum gemeinsamen Abendessen um 18 Uhr, denn das
„Schlemmerbuffet“ ist im Reisepreis inbegriffen.
20 Uhr
Janina hat sich für den Abend schick gemacht. Auch
Timo und Karl-Heinz haben sich für den Abend umgezogen.
Denn nach dem Abendessen gehen alle ins Bordtheater
zu einer Cabaret-Show. Janina ist mit 20 Jahren die
Jüngste in der Gruppe und zum ersten Mal ohne ihre Eltern
verreist. Ihr Vater hat sich Sorgen gemacht, ob alles klappt.
Denn seine Tochter hat Autismus. Janina hat die gleiche
Reise schon ein Jahr zuvor mit ihren Eltern gemacht. Sie
kennt sich also schon ein bisschen aus. Karin Reinecke teilt
sich mit Janina die Kabine. Alles läuft gut.
Annette schwärmt noch vom Buffet, Steffi freut sich auf
einen Cocktail: „Den gönne ich mir jetzt!“ Die Stimmung
ist heiter bis aufgekratzt. Dann beginnt die Show: „Mesdames
et Messieurs!“ Steffi sitzt neben Timo in der ersten
Reihe. „Hier ist das Feeling viel besser.“
Von der Show sind alle begeistert. Nach einer Dreiviertelstunde
ist leider alles vorbei, und eine Live-Band
macht weiter. Die Tanzfläche füllt sich im Nu. Steffi sitzt
im Rollstuhl, möchte aber auch „so richtig einen draufmachen“.
Sofort helfen ihr zwei ihrer Reisegefährten auf die
Tanzfläche und stützen sie. Annette findet in einer netten
Norwegerin eine Tanzpartnerin und die beiden schweben
zusammen über das Parkett. Da kommt Karin Reinecke
atemlos zur Tanzfläche: „Die Sonne geht gleich unter!“
Allen wird plötzlich wieder klar, dass sie auf einem Schiff
sind. Schnell, in die Observation Lounge!
22 Uhr
Deck 15 ist der höchste Punkt des Schiffes und befindet
sich noch über der Kapitänsbrücke. Die Observation
Lounge hat ein unglaubliches Panoramafenster. Auf
Wasser und Horizont zu schauen, ist wie meditieren. Um
22:14 Uhr ist die Sonne im Meer verschwunden, aber
dunkel ist es deshalb noch lange nicht.
24 Uhr
Karin Reinecke nimmt Steffi mit in Richtung Kabine.
Auf halbem Weg stellt Steffi fest: „Eigentlich will ich doch
noch bleiben!“, und lässt sich zurückschieben zu den
anderen. Bis 2 Uhr morgens halten die meisten aus – und
das ist keine Frage des Alters.
Annette und Betreuerin Anke teilen sich eine Kabine.
Anke meint: „Ach, am liebsten würde ich morgen den
Sonnenaufgang fotografieren!“ Annette erwidert: „Tu dir
keinen Zwang an. Wenn der Wecker um 4 Uhr bimmelt,
bin ich dabei.“
Annette ist schon viel gereist. „Ich mag Gruppenreisen.
Ich lerne immer neue Leute kennen, das ist
interessant.“ Sie ist Epileptikerin und fühlt sich – im Falle
eines Anfalls – in einer Gruppe besser aufgehoben. Diese
Reise hat sie besonders interessiert. „Ich spiele mit dem
Gedanken, mal eine große Kreuzfahrt zu machen. Ich
will wissen, ob das was für mich ist.“
Dienstag, 28. Juni, 4 Uhr
Der Wecker schrillt – zumindest in einer Kabine.
Schnell rein in die Sachen und raus an Deck. Dort sind
Annette und Anke fast alleine. Einen Herrn treffen sie.
Der fragt, ob er sie vor dem Sonnenaufgang fotografieren
darf. Aber natürlich darf er!
6:30 Uhr
Steffi wird als nächste wach. Sie liebt es zu frühstücken.
So macht sie sich alleine fertig und fährt schon mal zum
Buffet. Sie genießt es, alles in Ruhe tun zu können. Ab
7 Uhr trudeln die anderen ein. Timo ist der Sunnyboy der
Gruppe. Selbst wenig Schlaf ändert nichts an seiner positiven
Ausstrahlung. Karl-Heinz kommt mit dem Kaffeeautomaten
nicht zurecht. Timo macht ihm einen Kaffee.
Nach dem Frühstück sind alle auf dem Schiff
unterwegs. Mittlerweile fahren wir durch den Oslo fjord.
Alles sieht schon ganz norwegisch aus. Weiße Häuschen
reihen sich am felsigen Ufer entlang, Möwen begleiten
das Schiff, die Sonne scheint und es verspricht ein schöner
Tag zu werden!
9:45 Uhr
Treffen vor der Rezeption. Gleich legt das Schiff in
Oslo an. Jetzt gibt es ein paar Stunden Landgang. Karin
Reinecke hat sich mit Stadtplänen ausgerüstet. Weil fast
alle gut laufen können, werden sie Oslo zu Fuß erobern. Steffi
wird von den anderen abwechselnd geschoben.
Zunächst kommen wir durch eine schicke moderne Speicherstadt,
um dann entlang des Hafens Richtung Altstadt zu
laufen. Da sieht Janina die Aida im Hafen liegen: „Irgendwann
will ich da auch mal mitfahren!“ Viele Fotos werden
gemacht: vom Nobel-Friedenszentrum, dem Rathaus, dem
historischen Zentrum mit Nationaltheater, der Einkaufsstraße
Karl Johans Gate, dem Park und dem Schloss.
Irgendwann teilt sich die Gruppe. Zwei Betreuerinnen
gehen mit der „Shopping-Gruppe“. Betreuerin Edelgard
Kunde hat selbst eine Tochter mit Behinderung: „Sie ist jetzt
schon 33 Jahre alt.“ Seit vielen Jahren begleitet sie in ihrer
Freizeit Reisen der Lebenshilfe, „und es macht mir riesigen
Spaß. Dafür mache ich vorher Überstunden und nehme auch
noch Urlaubstage dazu.“ Drei Reisen der Lebenshilfe Wolfenbüttel
begleitet sie diesen Sommer. „Ich hoffe, dass mein
Arbeitgeber weiterhin mitmacht, damit ich im nächsten Jahr
noch mehr Reisen begleiten kann.“ Monika Behrend ist in
diesem Jahr bei allen sieben angebotenen Reisen als Betreuerin
dabei. „Ich bin den ganzen Sommer unterwegs, mein
Mann kennt das gar nicht anders. Ich selbst kann nicht anders,
ich liebe diese Arbeit.“ Übrigens sucht die Lebenshilfe
Helmstedt-Wolfenbüttel immer wieder Reisebegleiter für
ihre Fahrten.
13 Uhr
Am Osloer Schloss treffen sich alle wieder. Dann geht
es zur Bushaltestelle, um zum Schiff zurückzufahren. Um
13:45 Uhr muss man zurück an Bord sein. 13:31 Uhr – und
der Bus ist noch nicht da! Karin Reinecke bleibt die Ruhe
selbst. Als um fünf nach halb zwei endlich die richtige Buslinie
eintrifft, überredet sie kurzerhand den Busfahrer, bis
zum Schiff an den Anleger hochzufahren. Großer Applaus
im Bus, als dieser die Rampe hochfährt. Um 13:43 Uhr
kommen alle zurück an Bord – noch einmal geschafft!
14.07 Uhr
Tuuuuut … das norwegische Fährschiff legt fast pünktlich
ab. Das Sonnendeck ist schon wieder gut besetzt. Betreuerin
Anke hat gerade per Handy ihrem Sohn Luka zu seinem
10. Geburtstag gratuliert. Sie ist ganz kurzfristig für diese
Reise eingesprungen. Sie kennt ein paar Leute aus der Gruppe
aus dem Freizeittreff der Lebenshilfe, in dem sie an einigen
Stunden der Woche arbeitet. „Wir backen dort Muffins oder
machen mal eine kleine Radtour.“ Sie ist beliebt und kommt
bei allen mit ihrer natürlichen offenen Art gut an.
20 Uhr
In der Show Lounge gefallen der Gruppe Sänger und
Tänzer mit den amerikanischen Songs heute noch besser.
Der Captains-Cocktail hat sich zum Favoriten ent wickelt.
Anschließend wollen alle unbedingt wieder in die Observation
Lounge. Karin Reinecke weiß jetzt schon:
„Die Nacht wird kurz! Es ist kein Urlaub. Wir stehen um
7 Uhr auf und gehen nachts um 2 Uhr ins Bett. Das ziehen
wir durch, kein Problem. Danach sind wir zwar platt,
aber es hat Spaß gemacht!“
Mittwoch, 29. Juni, 9 Uhr
Treffpunkt Sonnendeck. Die Taschen sind bereits gepackt,
die MS Color Magic erreicht in Kürze Kiel. Alle lassen
die Reise Revue passieren. Annette ist sich jetzt sicher:
„Kreuzfahrten sind was für mich, ich mache so etwas wieder.“
Janina schiebt ihre Sonnenbrille hoch: „Mit Mama
und Papa hat es letztes Jahr die ganze Zeit geregnet. Dieses
Mal war es viel schöner!“
Martin fährt heute noch nach Hause nach Berlin. Edelgard
wird ihn in Braunschweig in den richtigen Zug setzen.
„Ich werde aber ganz bestimmt wieder mit der Lebenshilfe
Wolfenbüttel verreisen. Für nächstes Jahr habe ich mich
schon vor merken lassen. Da sehen wir uns alle wieder.“
Manfred war zum ersten Mal in seinem Leben auf
einem Schiff. „Eine tolle Sache!“ Und er freut sich über
die Kurzreise: „Weil ich nicht so viel Urlaub nehmen
musste. Schließlich gehen im Sommer nochmal drei
Wochen Urlaub weg, weil die Werkstatt schließt.“ Timo
findet: „Gruppenreisen sind viel besser, als mit der Familie
oder Freunden wegzufahren.“ Für das nächste Jahr
Mallorca hat er sich gleich schon mal vormerken lassen.
Steffi meint: „Genau, das ist nicht so langweilig, hier hat
man mehr zu quatschen.“
10 Uhr
Ganz in Ruhe schauen alle zu, wie sich die Passagiere
vom Schiff drängen. Dann, als fast alle von Bord sind,
machen sich auch die Teilnehmer der Mini-Kreuzfahrt
auf den Weg zurück an Land.
Früher habe ich fast zehn Jahre in der Behinderten hilfe
gearbeit, dann war ich 16 Jahre lang Reisekauffrau. Als
ich vor zwei Jahren zurück zur Lebenshilfe ging, war
mein Auftrag sofort klar: Ich komme aus dem Reisebüro
und die Lebenshilfe Wolfenbüttel will Reisen anbieten.
‘Dann machen Sie mal!’ hieß es. Im letzten Jahr haben
wir angefangen. Da konnte ich bereits fünf Freizeiten
mit i nsgesamt 54 Teilnehmern anbieten. In diesem Jahr
sind schon sieben Reisen für 86 Teilnehmer im Programm.
Diese Kreuzfahrt begleite ich, um die Barrierefreiheit
des Schiffes zu testen. Eine Frau mit Elektrorollstuhl
wollte gerne mitfahren. Ich habe mit der Reederei telefoniert
und gefragt, wie sie das einschätzen. Schweren
Herzens habe ich ihr abgesagt. Ich sehe aber, dass
es völlig unproblematisch ist. Nächstes Jahr könnte sie
selbstverständlich mitfahren.
Ab jetzt möchte ich gerne jedes Jahr eine Schiffsreise
anbieten. Das Interesse daran ist unglaublich groß.
Ich hätte nie mit so viel Resonanz gerechnet. Ich hatte
an acht TeilnehmerInnen und zwei Betreuerinnen gedacht,
dann wurden es immer mehr. Nun sind wir mit
vier Betreuerinnen unterwegs. Ich hätte sehr gerne auch
männliche Betreuer, aber die gibt es nicht. Letztes Jahr
hatten wir noch unseren ehemaligen Zivi mit, das war
perfekt.
Unsere Reisekataloge verteilen wir in unseren Einrichtungen,
aber man kann sich auch im Internet anmelden.
Die Reisen sind für jedermann offen.
Kreuzfahrten sind schon eine nette Art des Reisens,
weil man nicht umziehen muss. Man hat das Hotel immer
dabei. Man muss sich um nichts kümmern, alles ist
organisiert. Meine Befürchtung war, dass unsere Gruppe
sich auf diesem großen Schiff verloren fühlen könnte.
Und jemand denkt: ‘Oh je, wo ist meine Kabine?’
Aber meine Sorge war völlig überflüssig. Jeder Einzelne
genießt das hier in vollen Zügen. Es ist niemand dabei,
der sich langweilt. Und es gibt keinen Einzel gänger. Es
gibt immer kleine Gruppen, die gemeinsam auf dem
Schiff unterwegs sind.
Früher im Reisebüro habe ich ganz hochwertige
Reisen verkauft, aber immer kamen die Leute anschließend
mit irgend einer Kritik zurück. Das ist mir bei Menschen
mit Behinderung noch nie passiert. Alle sind total
glücklich, etwas Neues zu erleben.
Ich glaube nicht, dass unsere Gruppe besonders
beäugt wird. Selbst bei Steffi im Rollstuhl ist bei den
Mitreisenden eine große Hilfsbereitschaft da, wenn wir
mal über eine Schwelle nicht rüberkommen. Wir sind
hier völlig integriert.
Mir ist es ganz wichtig, auch für schwerbehinderte
Menschen Reisen so normal wie möglich anzubieten.
Bloß keine Sonderreisen!
In dieser Gruppe sind allerdings alle sehr fit. Steffi
braucht ein bisschen mehr Hilfe, ist aber trotzdem
sehr selbstständig. Viele leben ja auch allein: Manuela,
René, Annette und auch Timo haben ihre eigene
Wohnung. Da kann ich sie hier doch nicht bemuttern.
Alle Betreuer hier nehmen wahr, wann Hilfe benötigt
wird. Wenn Unterstützung nötig ist, hat immer
jemand Zeit.
Ich denke, wenn maximal drei Personen in dieser
Gruppe einen höheren Pflege aufwand hätten, wäre
das machbar. So eine Reise muss man erst einmal
gemacht haben, damit man sich dann mehr zutraut.
Ich gehe lieber vorsichtig an die Dinge heran. Jetzt
kann ich sagen: Ja, das können wir schaffen, das kriegen
wir hin.“
Die 180-seitige Broschüre können Sie hier für fünf Euro bestellen.