„Ich bin stolz auf jedes neue Wort, das die Kinder mit nach Hause bringen“, sagt Lilli Iwanow über ihre Töchter Regina und Marina. Das Besondere: Die Zwillinge sind bereits sieben Jahre alt, doch Sprechen ist für sie eine Seltenheit. Sie leiden unter dem Störungsbild des elektiven Mutismus.
Wenn Kinder zwar in der Familie sprechen, sich aber in der Außenwelt mit mündlicher Sprache gänzlich zurückhalten, dann liege es häufig nahe, elektiven Mutismus zu diagnostizieren, erklärt Ulrike Werner. Sie ist als Psychologin beim Sprachheilkindergarten der Lebenshilfe in Helmstedt tätig und betreut dort auch die Zwillinge Marina und Regina. „Die beiden haben außerhalb des Elternhauses überhaupt nicht gesprochen.“ Erzieher und Eltern wüssten in solchen Situationen oft nicht, woran das liegt. Sprechen die Kinder die Sprache nicht? Sind sie geistig nicht dazu in der Lage? Oder vielleicht taubstumm?
Marina (links) und Regina fühlen sich im sprachheilpädagogischen Kindergarten wohl.
Erst wenn die Eltern kontinuierlich und glaubwürdig davon berichten, dass die Kinder zu Hause sprechen, erweisen sich solche Theorien als haltlos. „Doch ohne therapeutische Hilfe kann sich elektiver Mutismus verfestigen und den Menschen ein Leben lang begleiten“, erklärt Werner weiter. Häufig werde die Störung erst besonders in der Jugend zu einem Problem, weil dann der soziale Druck steige.
Ein frühzeitiges aber sanftes Eingreifen sei daher wichtig. „Erzieher dürfen die Kinder nicht unter Druck setzen, sondern müssen viel Geduld mitbringen“, erklärt Katja Hoppe, Logopädin im Sprachheilkindergarten der Lebenshilfe in Helmstedt. Zudem sei es wichtig, auf die nonverbale Kommunikation mutistischer Kinder zu achten – diese sprechen zwar nicht, aber teilen sich oftmals auf allen anderen Wege mit: Gestik, Mimik, ein Winken zum Abschied. Um sie zum Sprechen zu bringen, sei eine vollkommen natürliche Motivation zur Kommunikation notwendig, schildert Hoppe. Manchmal sei ein Spiel so spannend und aufregend, dass ein Kind „aus Versehen“ spreche und seine Sprechhemmung für diesen Moment überwinde. Eine natürliche Aufgabe für Kinder sei das Eis-kaufen – eine Übung mit ihrer Mutter, bei der auch Marina und Regina sich überwinden konnten, „Erdbeere“ zu sagen.
Die Zwillinge sind zunächst in einen regulären Kindergarten gegangen. Doch die Erzieher waren dort oft verunsichert – ebenso die Eltern. „Nach den ersten gesprochenen Worten kam lange Zeit nichts mehr. Da dachte ich, Irgendetwas stimmt da nicht“, erinnert sich Lilli Iwanow, die bereits zwei Kinder groß gezogen hatte. „Bei Zwillingen ist die Gefahr ohnehin größer, dass sie sich sprachlich abkapseln und ihre eigene Welt schaffen“, erklärt Werner. Kinder mit Mutismusstörungen treten etwas häufiger in ländlichen Gebieten, bei zurückgezogenen Familien oder bei Familien auf, die einen Migrationshintergrund haben – wie bei den Iwanows, bei denen zu Hause oft Russisch gesprochen wird. „Die Störung kann aber in jeder Familie vorkommen“, ergänzt Werner.
Mit vier Jahren kamen die Schwestern schließlich in den Sprachheilkindergarten. Die erste erzieherische Maßnahme: Die Zwillinge kamen in zwei verschiedene Gruppen. Seitdem machen sie Fortschritte. Die Mutter begann zudem, aktiv nach weiteren Möglichkeiten zu suchen, den Kindern Selbstvertrauen zu geben. Inzwischen haben die Zwillinge regelmäßige Termine in der Tanzschule und nehmen Malkurse. Dabei lernen sie andere Kinder kennen und verabreden sich auch manchmal zum Spielen. Kleine Erfolge – die für die Gesamtentwicklung aber entscheidend sind.
Die Einschulung hatten die Eltern im vergangenen Jahr jedoch in Absprache mit den Erziehern zunächst verschoben. Diesen Schritt holen die Kinder jetzt mit sehr viel Selbstbewusstsein und gewachsenem Mut zum Sprechen nach.
Elektiver Mutismus ist eine Störung der kommunikativ-pragmatischen Sprachebene. Um auf die Arbeit der Sprachheilkindergärten aufmerksam zu machen, findet landesweit am Samstag, 23. Juni, der Tag des Sprechens statt – so auch im Sprachheilkindergarten der Lebenshilfe Helmstedt in der Walbecker Straße 7a.
Quelle: BZ