Wie Neugier zu einem Motor wird

Vorsichtig streicht Sarah Jansen mit einer kleinen Bürste über die Innen- und Außenfläche der Hand des fünfjährigen Mirko Aksu. Dann folgen Arm, Hals und Gesicht. „Das kitzelt“, sagt Mirko und lacht. Er gehört zu den Kindern, die in den Kindergärten der Lebenshilfe Helmstedt eine sensomotorische Integrationstherapie erhalten. Damit die Kindergärten diese Therapie anbieten können, hat sich Therapeutin Sarah Jansen zunächst an sechs Wochenenden sowie an einem Zertifizierungskurs weitergebildet. Seit 2012 studiert sie zusätzlich, um am Ende eine akademischen Abschluss für die sensomotorische Integration (SI) zu erhalten.
„Die sensomotorische Integrations-Mototherapie ist eine Therapieform, die mit Hilfe von Bewegung positiven Einfluss auf die Ganzheitlichkeit des Kindes nimmt“, erklärt Jansen. „Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Bewegung.“ Vor allem Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, Störungen der Aufmerksamkeit, Konzentration, Sprache und beim Lernen, mit Hyperaktivität, Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche sowie bei Mutismus und Autismus werden untersucht und gefördert. Sprach-, Verhaltens- und Lernstörungen sind häufig eine Folge von Störungen der sensomotorischen Basisfunktionen.
Ziel der SI-Therapie ist der Aufbau einer Körpersymmetrie sowie die Entwicklung und Verbesserung der sensorischen und motorischen Fähigkeiten, zum Beispiel der Nah- und Fernsinne, der Grob- und Feinmotorik oder der Bewegungskoordination. „Die kindliche Neugier ist der Motor der Bewegung, die Bewegung ist der Motor der kindlichen Entwicklung“, erklärt Sarah Jansen.

Sarah Jansen bei der Therapie mit Jaden.

 

Mirko liegt auf dem Rücken auf dem Boden, auch wenn die Massage mit der SI-Bürste immer wieder kitzelt, ist er ganz entspannt. „Eine einzelne Sitzung dauert etwa 45 Minuten“, erklärt die Therapeutin. „Allein die Massage nimmt davon 15 bis 20 Minuten in Anspruch.“ Beginnt ein Kind mit der SI-Therapie werde in den ersten drei Monaten nur massiert. „Viele der Kinder leiden an einer Über- oder Unterempfindlichkeit bei Berührungen. Die Ursachen dafür können Traumen sein oder aber Schwierigkeiten bei der Geburt oder in der Schwangerschaft“, so Jansen. Das Signal, welches bei Berührungen normalerweise ausgelöst und zum Gehirn geleitet wird, fehlt oder ist gestört. „Damit wir das in den Griff bekommen und eine Grundlage der Sensomotorik schaffen können, machen wir diese Massage, so können sich die Kinder an Berührungen gewöhnen“, erklärt Sarah Jansen. Zudem bauen das Kind und die Therapeutin ein Vertrauensverhältnis auf oder stärken dadurch die Bindung. Wichtig ist hierbei, dass dieses Konzept ein Eltern-Kind Konzept ist. Das bedeutet, dass in der Regel diese Übungen von den Eltern auch zu Hause ausgeführt werden sollten. Da dies aber nicht immer möglich ist, wird hierbei die Option gewählt, dies innerhalb der Einrichtung zu tun.
So werden die Hände, Arme, Stirn, Wangen, Mund, Hals, Bauch Nacken, Rücken, Füße und Beine vorsichtig mit der Bürste langsam und gleichmäßig massiert. „Mirko ist ein gutes Beispiel. Bei ihm verlaufen die Fortschritte nach Lehrbuch. Nach den drei Monaten Massage, die danach natürlich weitergeführt werden, konnten wir weitere Übungen mit einfließen lassen.“ Wenn Sarah Jansen an die ersten Sitzungen zurückdenkt, sind die Fortschritte bis heute beachtlich: „Am Anfang war er total desinteressiert, er hat die Massage gar nicht richtig wahrgenommen. Heute ist er total entspannt, hält sogar Blickkontakt.“
Im Anschluss setzt sich Mirko auf einen Drehstuhl. Die Augen hält er geschlossen. Ganz langsam dreht Sarah Jansen den Stuhl. „Das ist eine Übung für das Gleichgewicht. Zudem wird die Überempfindlichkeit ins Gleichgewicht gebracht. Dabei sollte man wissen, dass das Gleichgewicht Ordnung ins Gehirn bringt.
Für die letzten Übungen an diesem Tag legt sich Mirko erneut auf die Matte. Nun macht Sarah Jansen verschiedene Kräftigungsübungen mit ihm: Beine oder Arme heben, Rumpf anspannen. „Das dient zur Stärkung des Tonus, dass bedeutet Stärkung der Körperspannung, zudem wird die Halswirbelsäule stabilisiert. Zusätzlich werden die noch vorhandenen frühkindlichen Bewegungsmuster integriert. Auch die Augenmuskulatur wird trainiert, denn beim Anspannen der Füße und der Beine muss sich Mirko auf die Zehenspitzen konzentrieren. In Hinblick auf die Schule ist es wichtig die Augenmuskulatur zu trainieren: wegen des Lesens und Schreibens, bei Diktaten und im Kindergartenalter schon für Bilderbücher anschauen.
Das Gleichgewicht hilft dabei, aufrecht stehen zu können und nicht umzufallen, Unterscheidung von oben und unten, Verlagerung des Körpers und sowie die Körpermitte zu stabilisieren. Das bedeutet das, dass Gleichgewicht mit verantwortlich ist für gezielte feinmotorische Bewegungen und somit dem Erlernen bzw. Beherrschen der Schrift dient. Zudem arbeitet das Gleichgewicht mit Ohr, Augen, Bewegungsmeldern, Muskeln und Kortex zusammen, die die einzelnen Gehirnregionen fördert. Gleichgewicht ist wichtig für das Lernen, um sich gut zu fühlen, ruhig und ausgeglichen zu sein.
„Noch unterstütze ich ihn bei den Übungen leicht. Ziel ist es aber, dass er alle Übungen alleine machen kann“, betont die Therapeutin.
Die Therapie ist aus verschiedenen Konzepten zusammengesetzt und bietet so die Möglichkeit für jedes Kind ein individuelles Übungsprogramm zusammen zu stellen. Während Mirko bereits erste Übungen aktiv mitmacht, werden ähnliche Übungen beim fünfjährigen Jaden Wachsmuth passiv durchgeführt, das bedeutet, dass zum Beispiel die Arme und Beine oder der Kopf durch die Therapeutin gehoben und in die entsprechende Position gebracht werden. Aber auch bei ihm ist das Ziel, dass Jaden alle Übungen alleine ausführen kann.
Um durch die Therapie langfristige Erfolge erzielen zu können, ist die Anleitung von Übungen, die Beratung und Begleitung mit den Eltern Dreh- und Angelpunkt des Konzeptes.

Sarah Jansen, Mirko und Viktoria Arenhövel.