Wer war eigentlich Lessing?

Nachdem sich zehn Bewohner der Lebenshilfe-Wohnstätte an der Mascheroder Straße in Wolfenbüttel im Bildungszentrum der Volkshochschule Wolfenbüttel intensiv mit der Person und der Geschichte Gotthold Ephraim Lessings auseinandergesetzt haben, fand das Projekt am vergangenen Samstag mit einem Besuch im Lessinghaus einen gebührenden Abschluss.

Lessings Diener (Hardy Crueger) bat die Kursteilnehmer zum Eintritt in die musealen Räume. Dort angekommen, staunten diese nicht schlecht, als sie Lessing, gespielt von Roland Kremer, direkt bei der Arbeit vorfanden. Die Gäste überraschten den  einst auch in Wolfenbüttel wirkenden Dichter und Bibliothekar, der, mit Federkiel und Tinte ausgestattet, an seinem neuesten Drama schrieb. Gerne war er bereit, den interessierten Zuhörern als seine Freunde in alter Wohn- und Arbeitsstätte willkommen zu heißen und ihnen aus seinem Leben zu erzählen. Gebannt verfolgten alle Anwesenden die inszenierte Lesung. Unkompliziert und verständlich formuliert, war der lebhafte Vortrag für jedermann fassbar, ohne dabei den Charme des 18. Jahrhunderts zu verlieren.

Gemeinsam mit Lessing (von links) spielen Meike Friedrichs, Tobias Breuer, Doris Hahn, Michael Sievert und Bernd Wolters die Ringparabel nach.

Die Teilnehmer des von Heilpädagogin und Erwachsenenbildnerin Regina Schultz initiierten Bildungsprojekts brachten sich auch rege in die Darbietung Kremers als Lessing ein. Während der sechs Kursabende im Bildungszentrum hatten die zehn geistig behinderten Teilnehmer gemeinsam mit dem Kursleitungsteam Tugenden herausgearbeitet, die Lessing vor über 200 Jahren genauso wichtig waren wie ihnen jetzt. Auf bunt bemalten Plakaten hatten sie diese Werte wie zum Beispiel Toleranz, Wahrheit, Gewaltlosigkeit oder Liebe festgehalten und nun an entsprechender Stelle in der Lesung emporgehoben.

Daran anschließend führte Lessing seine Freunde durch die Räume, um danach – gemeinsam mit den Kursteilnehmern – sein Spätwerk „Nathan der Weise“ zu rekapitulieren. Ein Teil der Gruppe spielte die Geschichte um Wahrheit und Toleranz mit gezeichneten und ausgeschnitten Hauptfiguren des Dramas nach. Zum Schluss der Veranstaltung nutzen die alle die Gelegenheit, noch einmal auf eigene Faust durch die Ausstellung in den musealen Räumen zu gehen. Besonders interessiert haben dabei der Abdruck von Lessings Totenmaske und eine Originalhaarlocke des Dichters. Den Bewohnern der Wolfenbütteler Lebenshilfe-Wohnstätte hat der Besuch sichtlich gefallen. „Besonders gut fand ich, wie Lessing seine Lebensgeschichte erzählt hat. Er hat in Wolfenbüttel gewohnt und ich wohne auch hier“, sagte Teilnehmer Tobias Breuer. Auch Meike Friedrichs freute sich sehr: „Der Kurs und der Besuch im Lessinghaus waren richtig schön!“

„Die Idee, die sich hinter dem Projekt versteckt, ist die, dass durch die sogenannte Biografie-Arbeit der Zugang zur eigenen Identität vereinfacht wird“, erklärte die Kursleiterin Regina Schultz. Die Beschäftigung mit einer realhistorischen Persönlichkeit, die in Wolfenbüttel gelebt hat, helfe Menschen mit geistiger Behinderung, Rückschlüsse auf die eigene Person zu ziehen. „Wir haben im Kurs an der VHS Lessings Steckbrief erstellt und diesen dann auf die eigene Person gespiegelt“, sagt die gelernte Heilpädagogin. Ziel des Bildungsangebots sei es gewesen, dass die Teilnehmer zur Selbstreflexion angeregt werden, in dem sie sich die folgenden fünf Fragen stellten: Was ist mir wichtig? Was für ein Kind war ich? Was macht mich traurig? Was glücklich? Was wünsche ich mir für die Zukunft?

Das habe auch etwas mit Inklusion zu tun. „Damit Menschen mit Behinderung inklusiv an der Gesellschaft teilhaben können, müssen sie sich ihrer eigenen Persönlichkeit bewusst sein“, meint Schultz. Inklusiv sei die Bildungsveranstaltung außerdem gewesen, weil drei Studentinnen der Ostfalia, die im fünften Semester im Studiengang Soziale Arbeit studieren, das Projekt die gesamte Zeit über begleitet und tatkräftig an diesem mitgewirkt haben. „Nach jeder Sitzung haben wir ein Protokoll verfasst. Abschließend findet mit unserem Dozenten, Dr. Henning Daßler, der Kooperationspartner des Projektes ist, ein Reflexionsgespräch statt“, erklärte die Studierende Lea Unger.

Die drei Hochschülerinnen waren begeistert von dem Bildungsprojekt und den Teilnehmern gleichermaßen. „Ich interessiere mich schon lange für kulturelle Bildungsangebote für Menschen mit geistiger Behinderung. Ich denke, Biografie-Arbeit ist eine vielversprechende Methode, um geistig behinderten Menschen historische Themen näherzubringen“, sagte Studentin Tina Ohnrich. Auch die dritte Ostfalia-Studentin, Janet Akakoglu, war von dem Engagement der Kursteilnehmer überwältigt: „Es war klasse zu sehen, mit wie viel Motivation und mit welch regem Interesse alle dabei waren.“

Einen Beitrag zur kulturellen Inklusion sollte ebenso der Besuch im Lessinghaus leisten. „Es wäre schön, wenn der öffentlichen Veranstaltung im Lessinghaus noch mehr Interessierte beigewohnt hätten“, sagt die Kursleiterin, die das Projekt gemeinsam mit der Heilerziehungspflegerin Marina Drechsel und der Lehrerin Elke-Almut Dieter abgehalten hat.  Das sei schade, zeuge aber auch davon, dass die Gesellschaft noch einen weiten Weg vor sich habe, bis ein natürliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlicher werde. „Vielleicht laden wir bei der nächsten öffentlichen Kulturveranstaltung dieser Art in einen anderen, erweiterten Bezugsrahmen ein“, sagte Schultz und hofft so, ein größeres Interesse für das besondere Bildungsangebot zu wecken.

Dem zweiten Highlight des Tages tat diese Tatsache jedoch keinen Abbruch. Denn nach dem Besuch im Lessinghaus machte sich die Gruppe noch einmal auf den Weg in die Volkshochschule, um gemeinsam ein Festmahl wie zu Zeiten des Dichters abzuhalten. Nach dem Originalrezept von Lessings Frau Eva König machten sich die Kursteilnehmer in Kleingruppen daran, Tafelspitz, Salzkartoffeln, Meerrettichsoße und Apfelkompott zuzubereiten. „Es war ein toller Tag, alle haben viel erzählt, auch von sich selbst. Die Stimmung war von nachdenklich bis lustig, in jedem Fall aber sehr herzlich“, resümierte Schultz und schwärmte von dem besonderen Kommunikationsstil und der hohen Arbeitsfähigkeit der teilnehmenden Personen. „Es herrschte während der gesamten Kurszeit ein äußerst empathisches Klima.“

„Es war das erste Mal, dass Bewohner der Lebenshilfe-Wohnstätte ein kulturelle Angebot dieser Art wahrgenommen haben und das mit großem Interesse“, erklärte Wolfgang Eggeling, der als Assistent der Bewohnervertretung den Fahrdienst übernahm und auch während der Kursabende in der Volkshochschule verweilte. „Das Projekt ist sehr gut bei den Bewohnern angekommen. Es ist in jedem Fall wiederholungswert.“ Nächstes Jahr seien zwei weitere Kurse geplant. „Entweder wird es eine Art Fortsetzung oder Erweiterung des Lessing-Themas geben oder der Fokus wird auf einer anderen real- und regionalhistorischen Persönlichkeit liegen. Till Eulenspiegel böte sich beispielsweise an“, sagte Schultz.

 

 

 

 

 

 

 

Die Teilnehmer präsentieren auf selbst gestalteten Plakaten Tugenden, die ihnen wichtig sind.