Auf Lessings Spuren

Warum spricht man von der Lessingstadt, wenn die Stadt doch eigentlich Wolfenbüttel heißt? Diese Frage stellten sich Menschen mit geistiger Behinderung, die im Wohnheim der Lebenshilfe Wolfenbüttel an der Mascheroder Straße leben. Und diese Frage war es auch, die Heilpädagogin Regina Schultz zum Anlass nahm, ein Projekt zu entwickeln, in dem geistig Behinderten die Biographie Gotthold Ephraim Lessings (1729 – 1781) nähergebracht wird.

So kommen nun zehn Bewohner der Wolfenbütteler Lebenshilfe-Wohnstätte einmal in der Woche in der Kreisvolkshochschule zusammen, um sich gemeinsam mit dem Kursleitungsteam auf Lessings Spurensuche zu begeben. „Wir wollen interessierten Menschen mit Behinderung Lessings Lebensgeschichte, sein Werk Nathan der Weise und damit auch das Thema der Weltreligionen in einfacher Sprache erklären“, erzählt Schultz. Die gelernte Heilpädagogin, die vor ihrem Ruhestand über 30 Jahre in der Evangelischen Stiftung Neuerkerode tätig war und seit mehr als 20 Jahren auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung erfahren ist, trägt die Leitung des Kurses. Unterstützt wird Schultz von der Heilerziehungspflegerin Marina Drechsel und der Lehrerin Elke-Almut Dieter, auch Ehemann Jürgen Schultz steht tatkräftig zur Seite. Ebenso hilft Wolfgang Eggeling, Assistent der Bewohnervertretung der Lebenshilfe-Wohnstätte in Wolfenbüttel.

Auch drei Studentinnen der Fakultät Soziale Arbeit der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften arbeiten im Rahmen ihres Studiums am Lessing-Projekt mit. Zum wiederholten Male kooperieren Regina Schultz und Dr. Henning Daßler, der  an der Ostfalia im Bereich der Geistigbehindertenpädagogik lehrt, zu diesem Zweck. „Aufgabe der Studierenden ist es nicht nur aktiv am Bildungsangebot mitzuwirken, sondern auch ihre Mitarbeit auf ein von ihnen auserwähltes Berufsfeld hin zu reflektieren. Die Supervision übernimmt Dr. Daßler“, erklärt Schultz. Ebenso bedeutsam sei der inklusive Aspekt, der sich aus der Kooperation mit der Hochschule ergebe. „Die Kursabende werden zu Momenten der Begegnung, in denen Studenten und Menschen mit geistiger Behinderung zusammentreffen.“

In die Welt des Orients einfühlen, gehört zum Programm dazu.

Das Kursleitungsteam wirkt ehrenamtlich in diesem Projekt, auch die VHS beteiligt sich finanziell. Lediglich Regina Schultz erhält als Dozentin ein kleines Honorar. „Das Geld investiere ich komplett in die Materialien, die ich für den Kursus benötige. Und das sind viele, da es sich bei der Herangehensweise an die Fragestellung um eine ganzheitliche Methode handelt“, erklärt die Heilpädagogin. „Mit allen Sinnen sollen die Teilnehmer auf das Thema Lessing eingestimmt werden“, verdeutlicht Regina Schultz.

Was genau damit gemeint ist, zeigt die Fülle an Dingen, die in einer Kurssitzung auf Lessings Werk „Nathan der Weise“ vorbereiten sollen: Orientalische Musik erklingt, das Licht ist gedimmt, nur Kerzen und kleine Laternen erhellen den Raum. Anschließend vergegenwärtigen sich die Kursteilnehmer noch einmal die Geschichte des Dramas, das in der Vorwoche bearbeitet wurde. Schultz, Drechsel und Dieter unterstützen die Teilnehmenden, indem sie die Geschichte an Stellenwänden nachspielen. Auf großformatigem Papier ist die Handlung schematisch dargestellt. Die Teilnehmer fügen sich beherzt in dieses Schauspiel ein und platzieren die ausgeschnittenen Figuren mit Stecknadeln an den Wänden.

Aber nicht ausschließlich Ohren und Augen werden auf Jerusalem, als den Ort, in dem die Handlung Lessings „Nathan“ stattfindet, eingestellt. Der Geruch von Nelken, Muskat, Weihrauch und Zimt, die auch befühlt und herumgereicht werden, und der Geschmack süßer Datteln und getrockneter Feigen sprechen alle Sinne an. Ebenso das Einhüllen in orientalische Stoffe und das gemeinsame Tanzen zu Musik aus dem Morgenland.

Die Kursteilnehmer machen sich jedoch nicht nur mit der Vita und einem der Werke des wohl bekanntesten Schriftstellers und Bibliothekars aus Wolfenbüttel vertraut. „In diesem Projekt mit regional- und realhistorischem Hintergrund bedienen wir uns eines einzigartigen didaktischen und methodischen Ansatzes. Die sogenannte pädagogisch orientierte, biographische Arbeit soll den Teilnehmern ermöglichen, über die Lebensgeschichte einer realen Person auf den eigenen Lebenslauf zu schließen. Wir erstellen beispielsweise einen Steckbrief Lessings und schaffen anschließend analog dazu eine Beschreibung der eigenen Person. Dies hilft sich selbst zu reflektieren und schließlich die eigene Persönlichkeit wertzuschätzen. Dazu stellen wir im Rahmen des Angebots fünf Fragen: Was ist mir wichtig? Was für ein Kind war ich? Was macht mich traurig? Was glücklich? Was wünsche ich mir für die Zukunft?“, erklärt Schultz.

Durch diese Art der Selbstreflexion schafft das Bildungsangebot auch einen entscheidenden Teil zur Inklusion. „Damit Menschen mit geistiger Behinderung inklusiv am Leben in der Gesellschaft teilhaben können, müssen sie sich ihrer eigenen Identität bewusst werden. Dabei hilft die Biografie-Arbeit, die wir betreiben, ungemein“, verdeutlich die Initiatorin des Lessing-Projekts.

Und dass das, was in der Theorie gut klingt, auch in der Praxis aufgeht, zeigen die geistig behinderten Teilnehmer des Bildungsangebots in eindrucksvoller Weise. Nachdem sie mit Unterstützung des Fachpersonals die Werte herausarbeiten, die Lessing in seinem Werk „Nathan der Weise“ von Belang waren, wurden sie im Gegenzug gefragt, was ihnen selbst wichtig ist. Wie sich herausstellte, ähneln Lessings Intentionen den Wünschen der Teilnehmer: Gleichheit, Freundschaft, Toleranz, Wahrheit, Gewaltlosigkeit und Akzeptanz – Dinge, die Lessing vor über 200 Jahren genauso wichtig waren wie den Menschen, die sich in der VHS auf seine Spuren und den Weg zur eigenen Persönlichkeit begeben. „Wir sind gleich. Wir sind alle gute Menschen, egal welcher Religion wir angehören, ganz gleich, ob wir behindert sind oder nicht“, lautet die Quintessenz des Abends.

An sechs Terminen treffen sich Teilnehmer und Organisationsteam. Ein Abend wird in den Räumen der Herzog August Bibliothek als ehemalige Wirkstätte Lessings stattfinden. Zum Abschluss des Kurses steht am 27. April der Besuch einer öffentlichen Veranstaltung im Lessinghaus auf dem Programm. Dort erleben die geistig behinderten Lessingexperten gemeinsam mit anderen Menschen ein von Roland Kremer und Hardy Crueger inszeniertes Schauspiel. Kremer alias Lessing führt die Besucher durch die Räume des Lessinghauses und erzählt aus seinem Leben. „So leisten wir mit unserem Bildungsangebot einen Teil zur Inklusion. Ich freue mich jetzt schon darauf, dass die Kursteilnehmer sich mit anderen Besuchern der Veranstaltung im Lessinghaus austauschen“, sagt Schultz.

Anschließend gestalten alle Beteiligten des VHS-Kurses ein Festmahl wie zu Lessings Zeiten. Gemeinsam wird Tafelspitz mit Salzkartoffeln und Meerrettichsoße und zum Nachtisch Apfelkompott à la Eva König zubereitet und in großer Runde verköstigt.

Gleichheit, Freundschaft, Toleranz, Wahrheit, Gewaltlosigkeit und Akzeptanz – so lauten die Wünsche der Teilnehmer.